Bild 1: Jürgen Werner Apel
Unser Interkulturelles Netzwerk für begabte, hochbegabte, vielbegabte, höchstbegabte, hochsensible und synästhetische Einheimische, Arbeitsmigranten, Flüchtlinge und Asylsuchende möchte seinen Mitgliedern und Besuchern den Blick, Denken und Gefühl von Menschen eröffnen, die wir sonst niemals treffen würden.
Für uns biologisch Sehende ist Blindheit in der Vorstellung etwas Schlimmes, weil wir nicht wissen, ob wir selbst mit Blindheit als Betroffene klarkommen würden. Wie gut man als Betroffene mit Blindheit umgeht, hat auch etwas mit Zuversicht und Begabung zu tun. Dieses Interview ermöglicht uns, aus erster Hand zu erfahren, wie die Welt und die Sichtweise einer blinden begabten jungen Frau aussieht.
Unser Mitglied heißt Kirsty Major. Sie lebt und arbeitet in England.
Kirsty erzählt uns im folgenden Interview ihre Sicht zum Thema „Blindheit, Begabung, Berufliches und Brexit“.
Ich danke dir, liebe Kirsty, ganz herzlich für deine Offenheit und für deine sehr wertvollen Antworten, die uns die Augen öffnen.
Herzliche Grüße aus Wuppertal/Deutschland
Bild 2: Kirsty Major
Das Interview führte Çiğdem Gül
08.08.2018
Siehe INTERVIEW Teil 1:
INTERVIEW Teil 2
Çiğdem Gül: Wie funktioniert in der Blindheit die Liebe und Partnerschaft?
Kirsty Major: Für mich persönlich hat die Blindheit in meiner Liebe und Partnerschaft nie eine so große Rolle gespielt, weil sie nur ein kleiner Teil von mir ist. Ja, klar, es gibt im Alltag einer Partnerschaft praktische Dinge, die ich noch nicht kann, wie z. B. das Autofahren. In der Wohnung hilft es mir schon, wenn mein Partner meine Sachen nicht woanders ablegt, damit ich nicht nach ihnen suchen muss. Ich mag es nicht, wenn irgendwelche Sachen auf der Treppe herumliegen, weil ich sie aufgrund meiner Blindheit nicht sehen kann. Zudem könnten sie für mich gefährlich werden, wenn ich z. B. darauf trete. Dann könnte ich folglich ausrutschen und die Treppen hinunter stürzen. Außerdem bin ich ein ordentlicher Mensch. Nun, diese Beispiele zeigen, dass sie eigentlich nicht nur mit einer Liebesbeziehung zu tun haben. Ich denke, in jeder Beziehung ist Geben und Nehmen wichtig. Man muss selber seine Fähigkeiten in die Beziehung mitbringen; sonst braucht man als Blinde eine Pflegeperson, und keinen Partner.
In meiner aktuellen Partnerschaft ist es z. B. so, dass, wenn wir in den Urlaub fahren, mein sehender Partner für das Autofahren und für die Orientierung zuständig ist, und ich für die vorherige Internetrecherche. Die gewünschten und relevanten Ergebnisse meiner Recherche für Sightseeing fasse ich als Liste zusammen und trage sie meinem Partner vor. In unserer Partnerschaft teilen wir uns auch gleichberechtigt den Haushalt auf, den wir gemeinsam erledigen. Wir haben also beide unsere Bereiche, für die wir im Haushalt zuständig sind.
Bei der Partnerwahl habe ich meinen Partner nicht nach seinem Aussehen ausgesucht. Es wäre aber falsch zu behaupten, dass es mir egal wäre. Wie genau er aussieht, welche Haarfarbe er hat, usw. kann ich weder sehen, noch spielen sie für mich eine große Rolle. Aber die Tatsache, ob er sich für bereits unser Date zurechtgemacht und ein gepflegtes Erscheinungsbild hatte, war und ist mir wichtig, weil solche Dinge mir als Frau schon eine Botschaft übermitteln.
Es gibt Blinde, die eine Beziehung mit einem Blinden führen. Ich hatte in der Vergangenheit sowohl sehende als auch blinde Partner gehabt. Ich habe privat ein überwiegend biologisch sehendes Umfeld und verbringe somit viel mehr Zeit mit ihnen, so dass ich vor der Partnerschaft schon damit rechnete, mit einem sehenden Mann zusammenzukommen.
Çiğdem Gül: Wie träumst du als Blinde? Wie sind darin die Informationen, Handlungen etc. aufgebaut?
Kirsty Major: Da ich seit meiner Geburt blind bin, erlebe ich meine Träume so, wie ich mein reales Leben erlebe. Für mich existieren keine Bilder wie sie für die biologisch Sehende existieren; daher kenne und erkenne ich keine Bilder. Ich erinnere mich und weiß, was für einen Traum ich hatte, und was in meinen Träumen passiert, weil ich mich auf meine anderen Sinne verlassen kann. So „höre“ ich z. B., was die Charaktere in meinen Träumen zueinander sagen. Ein weiterer Unterschied ist, dass ich mich in fremden Orten super orientieren kann, als wäre ich schon einmal da gewesen. In meinen Träumen kam es vor, dass ich mit meinem Blindenführhund unterwegs war. Ich träumte aber nie, wie ich mit einem Blindenstock unterwegs war. Das könnte vielleicht daran liegen, dass ich Hunde so sehr liebe! Für jemand, der früher sehen konnte, wäre das bestimmt anders, denn das Gehirn hat Bilder und Erinnerungen, die in den Träumen genutzt werden könnten.
Çiğdem Gül: Du hattest eine wunderschöne Hündin Cindy gehabt. Welcher Rasse gehörte sie an? – Was bedeuten Haustiere für dich?
Kirsty Major: Ja, ich hatte eine Hündin, Rasse Golden Retriever, namens Cindy, gehabt. Cindy ist vor drei Jahren an Krebs verstorben. Cindy und ich hatten 10 gemeinsame glückliche Jahre zusammen verbracht. Auch heute sieht man immer noch Fotos von ihr auf meiner Website. Cindy war ursprünglich mein Blindenführhund, und später, als sie älter wurde, war sie einfach meine vierbeinige Freundin! Sie hat mich besser gekannt, als die meisten Menschen! Sie hatte Freude am Leben, war immer sehr begeistert von unseren Abenteuern und Spaziergängen, und sie hatte ein gutes Herz. Ich denke, durch sie habe ich gelernt, ein besserer Mensch zu werden.
Wer Tiere nicht mag oder, wer nicht bereit ist, sich täglich um seinen Hund zu kümmern, den Fell zu bürsten, den Hund zu pflegen, wenn er krank ist, Sachen in der Freizeit mit ihm zu unternehmen oder ihn einfach mal zu streicheln, der wird nie die Art Freundschaft genießen können, die Cindy und ich genossen haben.
Ein Hundebesitzer, der blind ist, hat ein anderes Denksystem beim Gassi gehen, damit er weiß, wo sein Hund sein Geschäft verrichtet hat. So kann der blinde Hundebesitzer dann den Kakischko seines Vierbeiners an öffentlichen Orten sofort entfernen. Nein, Blindheit darf keine Ausrede sein, es nicht zu tun. Blinde Hundebesitzer könnten bei Spaziergängen oder beim Gassi gehen an den Halsband des Vierbeiners eine Glocke anbinden, um jederzeit akustisch mitzubekommen, wo sein Hund ist, wenn er nicht an der Leine gebunden ist.
Die Bedeutung eines Haustieres für den Besitzer hat weniger mit Behinderung wie Blindheit zu tun. Vielmehr ist es eine Frage, wie man selbst zu Haustieren eingestellt ist und, wie viel er oder sie bereit ist, in die Beziehung zu einem Haustier zu investieren.
Çiğdem Gül: Wie lesen Blinde?
Kirsty Major: Das ist sehr unterschiedlich.
Ich finde es sehr wichtig, dass insbesondere blinde Kinder die Blindenschrift lernen. Das ist ein System mit sechs fühlbaren Punkten, die Buchstaben, Satzzeichen und Gruppen von Buchstaben darstellen.
Als Kind hatte ich die Blindenschrift in der Schule gelernt, während die anderen Kinder lesen und schreiben lernten. Ich war das einzige blinde Kind in meiner Klasse, und ich bin sehr froh, dass ich die Schule in meinem Dorf besuchen durfte, anstatt in eine Schule für Blinde geschickt zu werden.
Bücher in Blindenschrift sind sehr groß und schwer. So freute ich mich immer riesig, wenn der Postbote mir einen schweren Koffer mit neuen Büchern geliefert hatte, die ich zuvor in der Bibliothek für Blinde ausgeliehen hatte. Ich hatte auch meine eigenen Bücher gehabt. Mein Opa hatte mir damals ein großes Bücherregal gebastelt, der sehr widerstandsfähig war, und meine ganze schwere Büchersammlung tragen konnte.
Als ich mit 17 Jahren in der Schule an einem Schüleraustausch teilgenommen hatte, hatte die Gastfamilie Hörbücher auf Deutsch für mich ausgeliehen. Seitdem leihe ich aus der deutschen Bibliothek für Blinde selbst Bücher aus. Ich bin sehr dankbar dafür, weil ich oft stundenlang allein lernte. Das hat mir beim Deutschlernen viel geholfen. Ohne diese Bücher hätte ich viel weniger Zugriff auf barrierefreie deutsche Texte gehabt.
Einige Blinde lesen mit einer elektronischen Braillezeile, die die Wörter in Punkten darstellt.
(Die Braillezeile, kurz Zeile, oder Brailledisplay ist ein Computer-Ausgabegerät für blinde Menschen, das Zeichen in Brailleschrift darstellt. Üblicherweise werden sie durch Screenreader angesteuert, die Zeichen in ausgewählten Bildschirmbereichen auslesen und in Computerbraille darstellen.)
In der Gegenwart nutze ich überwiegend Hörbücher, weil ich sie auf meinem Handy laden und überall hören kann. Hörbücher zum Beispiel sind auch unter den Sehenden beliebt geworden, und wenn mehr Bedarf besteht, kann das nur gut für die Produktion von dieser Art von Büchern werden.
Wenn ich unterwegs bin, möchte ich kein großes Buch in Blindenschrift mit mir herumschleppen. Aber Blindenschrift an sich ist ganz wichtig, denn so lernt man, wie die Wörter geschrieben werden. Wenn man ein Wort nur hört, weiß man als Blinde nicht, wie man es buchstabiert. Um gut schreiben zu können, muss man dies jedoch wissen.
Ich finde, wir Blinde sollten die Wahl haben, ob wir Punktschriftbücher, Hörbücher oder großgedruckte Bücher lesen wollen.
Çiğdem Gül: „Nur fünf (!) Prozent aller veröffentlichten Bücher stehen blinden Menschen zur Verfügung“, sagt DBSV-Präsidentin Renate Reymann. Wann, glaubst du, öffnet insbesondere Deutschland und England die Grenzen für barrierefreie Buchformate?
Kirsty Major: Das ist schwer zu sagen. Ich denke, dass es auf jeden Fall besser geworden ist. Ich lese zum Beispiel Kindlebücher auf meinem Kindle- App. Es verwendet die Stimme von meiner Sprachausgabe. Die Stimme ist jedoch nicht so schön, als wenn jemand auf ein Hörbuch mit einer schönen Stimme vorliest. Worauf ich hinaus möchte, ist, dass ich als Blinde im Jahr 2018 bessere Chancen habe, ein Buch zu lesen/zu hören, als vor 50 Jahren dies der Fall war. Vor allem neue Bücher, die auf dem Markt kommen, sind für Blinde nicht barrierefrei. Es ist nicht schön, wenn alle über ein neues Buch reden, und Blinde nicht mitreden können, weil das Punktschriftbuch oder das Hörbuch noch nicht erhältlich ist.
Ich bin Mitglied bei einer Online Bibliothek für Blinde. Dort gibt es eine gute Auswahl von Büchern, die ich bei Bedarf sofort herunterladen und lesen kann.
Ich wusste, dass es ein Problem war, aber dass nur fünf (!) Prozent aller veröffentlichten Bücher blinden Menschen zur Verfügung stehen würde, hat mich jetzt etwas überrascht.
Çiğdem Gül: Wo unterscheiden wir Menschen uns am Eindeutigsten: Mit „Augen sehen“ oder mit „Sinnen sehen“?
Kirsty Major: Ich denke, dass man beides gelernt haben sollte. Zum Beispiel ist mein Partner ein Sehender, der auch seine anderen Sinne nutzt. Er nimmt Dinge wahr, er erkennt Dinge, die andere übersehen oder gar nicht wahrnehmen. Man kann sehen, ohne richtig hinzusehen und hören, ohne richtig zuzuhören. Daher denke ich, dass es von der Person abhängt, ob er oder sie gelernt hat, die eigenen Sinne zu nutzen und die ganze Informationen zuzuordnen und zu verstehen.
Çiğdem Gül: Wie entsteht bei Blindheit die Kreativität?
Kirsty Major: Ich glaube, bei Blindheit entsteht Kreativität wie bei Sehenden. Zudem interpretiert jeder Kreativität anders. Es gibt Menschen, die ihre Kreativität darin ausleben und ausdrücken, Songtexte für ihre Musik zu schreiben. Oder sie malen mit tastbaren Materialien, sie formen Objekte aus Ton, sie bauen Pflanzen an, um einen schönen Ort im Garten zu schaffen. Ich könnte an dieser Stelle meine Beispiele für Kreativität unendlich fortsetzen. Wenn ich von mir sprechen darf: Meine Kreativität drücke ich in meiner Sprachenlandschaft auf meinen Webseiten und Blogs am besten aus. Dort schreibe ich sehr gerne und verwende kreative Wörter, um meine Ideen weiterzugeben.
Çiğdem Gül: Blindheit und Improvisation?
Kirsty Major: Unter Improvisation verstehe ich den spontanen praktischen Gebrauch von Kreativität zur Lösung auftretender Probleme. Als Blinde muss man gut in der Improvisation sein, weil sie für uns Blinde jeden Tag unerwartete Hindernisse gibt, für die wir immer wieder neue und kreative Wege, also Umwege, finden müssen. Nur so können wir unser tägliches gewünschtes Ziel erreichen. Manchmal ist das sehr ermüdend Aber ich sehe es auch als Stärke, und ja, Improvisation hat also etwas mit Kreativität zu tun.
Çiğdem Gül: Wie erlebst du deine Begabungen im Alltag?
Kirsty Major: Ich habe nie wirklich über meine Begabungen nachgedacht. Ich denke oft, das, was ich kann und tue, einfach normal und selbstverständlich ist. Auf der anderen Seite stelle ich fest, dass genau diese Fähigkeiten eine andere Person, und sogar biologisch Sehende, eben (noch) nicht besitzen. Das gilt natürlich auch umgekehrt. Andere verfügen über Begabungen, über die ich (noch) nicht verfüge.
Sprachen lernen ist für mich nicht schwer, aber ich habe ganz viel Zeit und Mühe in meine Sprachen investiert, um ein gutes Sprachniveau zu erreichen. Ich bin froh, dass Sprachen jetzt Teil meines alltäglichen Lebens geworden sind. Ich schreibe beruflich jeden Tag sehr viel auf Deutsch, und bei meiner Online Sprachschule nutze ich für mich insbesondere in meinen Anfängerkursen täglich die deutschsprachige Konversation.
Ich kann Ordnung aus Chaos hervorbringen. Mir ist klar, wie man Aufgaben bei der Arbeit effizienter und leichter lösen kann. Das hilft mir auch privat. Die Tatsache, dass ich aktiv zuhören kann, bedeutet, dass ich bessere Beziehungen zu meinen Kunden aufbauen kann. Sie fühlen sich ernst genommen und bauen oft schneller Vertrauen zu mir auf.
Çiğdem Gül: Existiert für dich Hindernis?
Kirsty Major: Ja, jeden Tag. Von geparkten Autos auf dem Bürgersteig bis hin zu Websites, die nicht barrierefrei sind. Viele nicht- behinderte Menschen sind der Ansicht, dass behinderte Menschen hilflos sind oder im Alltag und im Leben weniger erreichen können. Bei den Blinden ist es wie folgt: Es klingt zwar paradox, aber ich glaube, dass wir Blinde uns selber manchmal im Weg stehen, wenn wir erwarten, dass die Leute um uns automatisch wissen, was angebracht oder hilfreich wäre, obwohl sie sich nie im Leben mit dem Thema „Blindheit“ befassen mussten.
In dieser Hinsicht hat mir in meiner Schulzeit die Erziehung in einer Schule mit sehenden Kindern sehr geholfen. Ich glaube es hat den anderen Kinder in meiner Klasse auch geholfen; denn sie haben erlebt, wie eine Blinde Schulkameradin, also ich, mit ihnen zusammen gelernt hat. Ich hatte einen Laptop anstatt einen Kugelschreiber, und manchmal habe ich Hilfe gebraucht. Wenn meine Mitschüler Hilfe bei den Deutsch-Hausaufgaben benötigten, so waren sie oft zu mir gekommen. Sie hatten im Unterricht gelernt, dass ich als blinde Mitschülerin einiges anders gemacht habe, aber die meiste Zeit genau dasselbe wie sie gelernt habe. Wer das als biologisch sehendes Kind lernt, wird hoffentlich als Erwachsene weniger Vorurteile mit uns Blinden haben.
Çiğdem Gül: Was können biologisch Sehende von blinden Menschen lernen?
Kirsty Major: Vielleicht, dass man eine Erfahrung mit allen Sinnen genießen kann, nicht nur das Sehen. Ich war mehrmals mit sehenden Begleitpersonen im Urlaub (Die Reisekosten sind für sie günstiger, weil sie blinden Gruppenmitgliedern bei der Orientierung begleiten und unterstützen.) Nach den gemeinsamen Unternehmungen haben mir meine Urlaubs-Begleitpersonen als Feedback gegeben, dass sie unterwegs alles um sie herum mit den anderen Sinnen wahrgenommen haben – die Geräusche und Gerüche, also nicht nur, was sie sehen konnten.
Çiğdem Gül: Warum sehen Europäer und Asiaten Blindheit als Mangel und nicht als Fähigkeit?
Kirsty Major: Ich weiß es nicht, warum Europäer und Asiaten Blindheit als Mangel und nicht als Fähigkeit sehen. Ich kann dir nur sagen, was ich über die Blindheit denke. Ich sehe sie selber nicht als Fähigkeit an. Ich habe neulich auf Facebook gelesen, wie eine Frau ihre Blindheit als Gabe beschrieben hat. Das ist ihre Meinung, die ich respektiere, aber nicht teile. Fakt ist, dass ein Teil meines Körpers nicht funktioniert. Ich fühle mich dadurch nicht minderwertig, aber sollte ich eines Tages dank medizinische Forschungen die Möglichkeit haben, wieder mein Sehvermögen zu erlangen, würde ich diese Chance annehmen wollen, ohne es so zu empfinden, als ginge ein Teil meine Identität verloren. Es ist nun mal wahr, dass ohne meine Blindheit in meinem Leben Vieles einfacher sein würde. Aber damit will ich nicht sagen, dass ich traurig oder unzufrieden bin. Ich finde andere Wege, um meine Ziele zu erreichen. Insofern habe ich neue Fähigkeiten als Folge von meiner Blindheit entwickelt. Behinderte Menschen sind oft recht gut darin, Probleme lösen, weil sie jeden Tag damit konfrontiert werden.
Was aber ein grundsätzliches Problem darstellt, ist die Tatsache, dass die Gesellschaft gegenüber behinderten Menschen eine sehr niedrige Erwartungshaltung hat in Bezug auf das, was sie alles schaffen könnten und können. Das Problem ist, dass viele Menschen ohne Behinderung, und auch einige mit Behinderung, glauben, dass man erst nicht versuchen sollte, Neues zu probieren und Wege um die Hindernisse zu finden. Das finde ich sehr schade, und manchmal auch sehr frustrierend.
In der Vergangenheit hatte ich allein gewohnt. Als Alleinstehende war jeden Tag etwa drei Stunden allein unterwegs auf dem Weg zur Arbeit oder auf dem Nachhauseweg von der Arbeit. Ich ging allein einkaufen und kochte. Als Teenager war in jeder freien Minute bei den Pferden in der Reithalle, und meine Lieblingsbeschäftigung war das Springen! Seit Jahren leite ich meine eigene Online Sprachschule für Erwachsene. Ich lerne Sprachen. Das zeigt, dass Blinde sehr wohl viel leisten und erreichen können.
Çiğdem Gül: Was denkst du über die `Blindheit´ der Mehrheit der Gesellschaft (z. B. gefühlsblind, egozentrisch, weniger sozial engagiert)?
Kirsty Major: Ich denke, dass wir sehr viel verpassen, wenn wir uns zu sehr auf das Äußerliche konzentrieren. Zum Beispiel, wenn wir nach einigen Sekunden entscheiden, dass wir jemandem nicht zuhören, weil uns etwas an seinem Aussehen nicht gefällt. Obst und Gemüse wird weggeworfen, weil es nicht perfekt ist, aber trotzdem genauso gut schmecken würde. Es gibt Menschen, die ihr Urlaubsort danach auswählen, wie schön ihre Urlaubsfotos auf ihrer Instagram-Seite aussehen würden. Das ist nicht meine Idee von Urlaub. Ja, klar teile ich Bilder (die ich selbe nicht fotografieren kann), und klar teile ich keine schlechten Bilder von mir, aber ich denke manche Leute sind so sehr damit beschäftigt, wie sie sich anderen gegenüber präsentieren, dass sie vergessen das Leben zu genießen. Das finde ich schade.
Auf der anderen Seite schreibe ich einen Blog auf dem Kosmetikartikel und Hautpflegeprodukte vorkommen. Wenn ich ausgehe, macht es mir Spaß, schöne Kleider auszusuchen und mir Zeit beim Schminken zu nehmen. Einigen Blinden ist ihr Aussehen egal, Das finde ich nicht so klug. Auch wenn man sich als Blinde selbst nicht sehen kann, können andere Menschen, also sehende Menschen einem sehen.
Çiğdem Gül: Viele Begabte und Hochbegabte ohne Behinderung erhalten wenig Beachtung und Anerkennung. Begabte und Hochbegabte mit (Seh-)Behinderung erhalten kaum Beachtung und Anerkennung. Ich vermute, dass in der Gesellschaft und in der Arbeitswelt Begabung und Behinderung als zwei sich ausschließende Merkmale gesehen werden. Was denkst du darüber?
Kirsty Major: Ich kann dir gerne sagen, welche Erfahrung ich diesbezüglich mache. Ich erhalte zwar Beachtung und Anerkennung für Dinge, bei denen ich meine, dass sie für mich gewöhnlich sind und daher eher andere Fähigkeiten und Leistungen von mir diese Beachtung und Anerkennung verdient hätten. Für Sehende mag es eine große Herausforderung sein, bestimmte Dinge zu bewältigen, aber dieselben Dinge sind für Blinde wie mich keine große Herausforderung. Manchmal werden Behinderte von Nicht-Behinderten für Dinge bewundert, die für sie eigentlich nicht schwer zu bewältigen sind. Das empfinde ich dann als sehr merkwürdig.
In der Schule wollte ich immer die Beste sein in den Fächern, die mir am meisten Spaß gemacht haben. Und zwar nicht deswegen, um bessere Schulnoten als meine Mitschüler zu erhalten, sondern um mir selber eine Herausforderung zu erlauben. Ich würde lieber einige Sachen sehr gut können, als viele Themen nur mittelmäßig zu bewältigen. Wahrscheinlich hat das indirekt mit meiner Blindheit zu tun. Ich will nämlich, dass Leute zu mir kommen, weil ich etwas einfach gut kann. Und da steht mein Können, und nicht meine Blindheit im Vordergrund frei nach dem Motto: „Kirsty ist die Beste in dieser Deutschklasse. – Und nicht: „Kirsty ist trotz ihrer Blindheit die Beste in dieser Deutschklasse.“
Vielleicht würde ich mehr Beachtung und Anerkennung in der Gesellschaft und in der Arbeitswelt erhalten, wenn ich meine Blindheit mehr in den Vordergrund stellen würde. Das möchte ich aber nicht. Wenn ich meine Arbeit gut mache, oder Beiträge schreibe, die den Lesern gefallen, vertraue ich darauf, dass man es weiter erzählt und sie weiter empfiehlt.
Bild 3: Kirsty Major
Çiğdem Gül: Bei einem Referendum des Vereinigten Königreichs am 23. Juni 2016 stimmten 51,89 % der Wähler für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union. Kirsty, was denkst du als Einheimische seit dem Brexit-Referendum über eure Zukunft und die Großbritanniens?
Kirsty Major: Ehrlich gesagt, mache ich mir sehr große Sorgen um unsere Zukunft.
Ich bin gegen Brexit. Ich gehörte zu der ca. 48% der Wählerschaft an, die beim Referendum dagegen gestimmt hatte.
Ich möchte als Engländerin, die in England lebt und arbeitet, gerne erzählen, wie es vielen einheimischen Brexit-Gegnern und auch mir mit diesem Thema geht.
Ich habe es satt, oft hören zu müssen, dass das vorliegende Referendum-Ergebnis das sei, was das britische Volk wolle. Nein, dem ist nicht so! Bei knapp der Hälfte der abgegebenen Stimmen wurde gegen Brexit gewählt. Nur, weil eine knappe Mehrheit für Brexit gestimmt hat, heißt es noch lange nicht, dass alle Briten Brexit wollen. Ich bin ich mir sogar sicher, dass beim Thema Brexit im Falle eines neuen Referendums die Ergebnisse anders ausfallen würden. Und zwar deshalb, weil das britische Volk zwischenzeitlich aufgeklärter ist – auch in Bezug auf die möglichen Konsequenzen des Brexit auf jeden einzelnen Bürger, auf die Lebensqualität, auf die Wirtschaft, Sicherheit etc. – als vor dem ersten Referendum.
Bereits vor dem Referendum regte ich mich darüber auf, dass in den nationalen und internationalen Medien sowie in der britischen Gesellschaft selbst zum Thema Brexit en masse unwahre Informationen erzählt oder veröffentlicht wurden. In wohlwollender Haltung glaubte ich, dass die Vernunft dieser Köpfe siegen würde. Zu meinem Entsetzen war es aber nicht der Fall.
Normalerweise geht es in England vor einer politischen Wahl friedlich zu, auch wenn die Wähler unterschiedliche, sogar konträre, Meinung und Haltung vertraten. Ich beobachtete, dass erstmals beim Referendum die Atmosphäre in der Gesellschaft sich auf eine konfuse Art und Weise veränderte. Vor dem Referendum wurde in Social Media wie Facebook von vielen Usern heftig diskutiert. Und bei einigen Diskussionen flogen sogar die Fetzen. Die Diskussionen bzgl. Brexit liefen auf beruflichen Schauplätzen weiter. Die Diskussionen lösten sogar Streit in Familien aus. Es ging soweit, dass bei konträren Meinungen zum Thema nach heftigen Diskussionen Kontakt zu bisherigen Freunden abgebrochen wurden.
Am Folgetag des Referendums wachte ich sehr früh auf, um auf meinem Handy per News App nach den Wahlergebnissen zu schauen. Mir stockte der Atem. Ich war fassungslos und konnte es nicht glauben. Mit einer knappen Mehrheit wurde in England für Brexit gestimmt.
Ich erinnere mich, wie ich an diesem Tag vergeblich versuchte, mich später bei der Arbeit auf meine Aufgaben zu konzentrieren. Es gelang mir jedoch nicht. Auf meiner beruflichen facebook-Seite verfasste und veröffentlichte ich einen Beitrag mit dem Inhalt, dass ich mich vom Wahlsieg für Brexit ausdrücklich distanzierte. Außerdem ist diese Wahl nicht rechtlich bindend.
Viele Einheimische glauben und behaupten, dass es bei dem Referendum vor allem auch um das Thema Migranten ginge. Nein, diese Wahl tangiert nicht nur das Thema der Migranten, sondern auch viele andere Themen die wir nicht außer Acht lassen dürfen.
Es ärgert mich nach wie vor, dass sich die Bürger in England vor dem Brexit-Votum keine Zeit genommen hatten, sich gut und differenziert über das Referendum und Brexit zu informieren. Viele Leute hatten sich nicht einmal die Zeit genommen, bei dem Referendum ihre Stimme abzugeben. So nach dem Motto: „Es wird alles ok werden. Ich brauche nichts zu unternehmen. Ich brauche meine Stimme nicht einmal abzugeben“. Und Viele, die für Brexit gestimmt hatten, hatten nach Gefühl und nicht nach beweisbaren Fakten ihre Stimme abgegeben.
Später erstellte ich eine Excel-Tabelle und trug dort die negative Kursentwicklung und Kursverluste für das britische Pfund ein. Ich konnte in der Folgezeit ablesen, wie das britische Pfund immer mehr an Wert abnahm und zunehmend schwächer wurde.
Zugegeben, ich finde nicht alles an der Europäischen Union (EU) gut. Und sicherlich gibt es auch Themen und Bereiche, die besser laufen könnten. Aber als Mitgliedstaat der EU könnte England in der globalen Welt stärker auftreten und viel mehr erreichen, als dass er „isoliert“ von der EU tun kann. Zusammen als Teil der EU könnten wir so viel mehr erreichen. Wir werden wahrscheinlich als kleine geographische Insel noch so viele Probleme in einer globalen Welt haben. Bildlich dargestellt: Ich hätte lieber einen Sitzplatz am `runden Tisch´, an dem ich über mögliche Änderungen sprechen und diskutiere würde, als dass mein Stuhl umkippt und ich aus dem Raum hinauslaufen müsste. Und folglich meine Mitbestimmungsrecht, was zukünftige Entscheidungen angeht, aufgeben müsste.
Wenn jemand eine andere Meinung vertritt, kann ich das respektieren. Wenn Brexit- Befürworter und Brexit-Wählerschaft mir die Gründe für ihre Haltung und Stimmwahl bei dem Referendum nennen würden, und sie diese sogar mit wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen Beweisen untermauern könnten, würde ich auch ihre Entscheidung respektieren. Jedoch könnte und kann ich sie nicht akzeptieren.
Mit der politischen Realisierung und Umsetzung von Brexit würden wir anschließend gegen eine Felswand fahren, ohne einen Plan für die Zukunft Englands in der Hand.
So ein Referendum-Ergebnis hätte nach meiner Meinung nie passieren dürfen. Es ist für mich unfassbar, dass nur eine knappe Mehrheit der Bevölkerung als Pro-Brexit-Wähler das Schicksal eines ganzen Landes nachhaltig ändern kann.
Abschließend möchte ich sagen, dass ich ein neues Referendum vorschlage. Auf dem Wahlpapier sollte eine Option zum Ankreuzen geben, auf dem steht, dass wir die Idee mit Brexit einfach vergessen.
Çiğdem Gül: Gibt es etwas, was dir noch auf dem Herzen liegt, und du uns sagen möchtest?
Kirsty Major: Ich glaube, wir, also die biologisch Sehenden und die Blinden, unterm Strich mehr Gemeinsamkeiten und Verbindendes haben als Unterschiede und Trennendes. Ich empfinde als Blinde zwar einiges anders, aber meine Blindheit ist nur ein Teil von mir. Ich habe Hobbys, Interessen, Meinung, die Ihr vielleicht auch teilt.
Es gibt Dinge, die Ihr biologisch Sehende tun könntet, um uns Blinden das Leben leichter zu machen. Zum Beispiel, wenn du eine Website hast, bitte denke über die Barrierefreiheit für Blinde nach. Auch wenn du Hunde magst, bitte störe einen Blindenführhund bei der Arbeit nicht. Das kann gefährlich werden. Wenn Du Bäume vor dem Haus hast, lasse sie nicht so weit über den Gehweg wachsen, dass sich jemand, und vor allem eine Blinde daran verletzen könnte. Das sind nur ein paar Beispiele von vielen Bespielen, die mir gerade eingefallen sind.
Çiğdem Gül: Ich möchte dir sagen, dass ich im Interview das Thema `Blindheit´ unbedingt thematisieren wollte, aber meine dazugehörigen Fragen dich und dein Leben keinesfalls darauf reduzieren.
Liebe Kirsty, mit deinen Antworten hast du mir, und sicherlich auch vielen anderen Mitgliedern des Interkulturellen Netzwerkes für Hochbegabte, die Augen geöffnet. Zum Beispiel hatte ich mir vorher nie Gedanken darüber gemacht, die Fotos auf meinen HTML-basierten Webseiten für blinde Leser barrierefrei zu gestalten. Ehrlich gesagt, wusste ich auch gar nicht, dass es sowas überhaupt existiert. Du hast mir im Hintergrund wertvolle Tipps gegeben, so dass ich von dir gelernt habe, wie man ein Foto auf der eigenen Webseite in der HTML-Codierung zusätzlich so codiert und eine Text-Beschreibung des Fotos hinzufügt, dass nach der Veröffentlichung die Beschreibung nur für Blinde sichtbar ist. Sie können nun zumindest anhand der Beschreibung wissen, was auf dem Foto abgebildet ist. Und so gestalte ich ab sofort meine barrierefreien Webseiten für unsere blinden Leser und Besucher. Yeeeaaahhhh!…:-)
Kirsty Major: Super – danke! Auch im Namen der anderen blinden Mitgliedern und Besuchern.
Gerne möchte ich meinen englischsprachigen externen Gastbeitrag mit Tipps für eine barrierefreie Webseite / Blog „7 Ways to Make Reading Your Blog a More Positive Experience for Blind Readers“ vorstellen.
https://www.blogherald.com/2017/11/16/make-your-blog-more-accessible-blind-readers/
Und hier abschließend die Links zu meinen Seiten:
„English with Kirsty“
https://englishwithkirsty.com/blog/
„Unseen Beauty“
Çiğdem Gül: Keyifli bir reportaj oldu. Röportaj için çok teşekkür ederim, Kirsty canem.
(übersetzt: „Liebe Kirsty, vielen herzlichen Dank für unser Gespräch.“)
– Ende –
© Çiğdem Gül
Gründerin & Moderatorin
des Interkulturellen Netzwerkes für Hochbegabte
Diplom-Ökonomin
Change Management Consultant
Business Coach
Interkultureller Coach für Hochbegabte & Hochsensible
Online Marketing Managerin
Freie Journalistin
https://interkulturellhochbegabte.blogspot.com/
Teil 2 – Englische Übersetzung von Kirsty Major
siehe: „ENGLAND: Kirsty Major speaks about blindness, giftedness and Brexit – part 2″
Teil 1 – Englische Übersetzung von Kirsty Major
siehe: „ENGLAND: Kirsty Major speaks about blindness, giftedness and Brexit – part 1″
Bild 1 / Picture 1 thanks to © Jürgen Werner Apel (Mannheim/Germany)
Bild 2 + 3 / Picture 2 + 3 thanks to © Kirsty Major (London/England)