SYNÄSTHESIE: Matthias Waldeck: „Der Wind hat mein Lied zerstört!“


Dmitry Kustanovich

Bild / Picture thanks to © 2019 Dmitry Kustanovich (Russia) – Изображение благодаря © Дм.Кустанович (Россия)

 
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SYNÄSTHESIE: Matthias Waldeck:

„Der Wind hat mein Lied zerstört!“

 
 
 
 

Das Interview führte Çiğdem Gül

07. September 2019

 

INTERVIEW

 

Çiğdem Gül: Herr Waldeck, ich habe das von Ihnen empfohlene Animationsvideo „Synesthesia Bedroom“ auf YouTube zur Einstimmung auf das Thema angeschaut, das zeigt, wie der Synästhet z. B. sein Schlafzimmer wahrnimmt. Ihre Synästhesie läuft genauso ab, nur mit anderen Farben und Formen. Als Hochsensible bin ich der permanenten Reizüberflutung zwar gewohnt, aber die unterschiedlichen Farben, Bilder, Objekte und Geräusche im Animationsvideo, die gleichzeitig – teilweise überlappend – gezeigt wurden, würden mich bei täglichem Wahrnehmen verrückt machen. Wie gelingt es Ihnen trotz Ihrer Synästhesie und der damit verbundenen Wahrnehmungsvielfalt und -schichten völlig entspannt Auto zu fahren? Was genau passiert in Ihrer synästhetischen Wahrnehmung im Straßenverkehr?

Matthias Waldeck: Diese Fragen werden mir oft gestellt. Ich fahre gern Auto, ein Grund ist die Musik, die ich während der Autofahrt höre. Ich kann sie im Auto bequemer und damit unangestrengter „betrachten“. Das liegt an dem Abstand der Lautsprecher im Wagen. Sie verkleinern das synästhetische Feld, in dem die Formen und Farben ablaufen, auf ein überschaubares Maß. Sonst passiert das Gleiche vermute ich, wie bei allen anderen Autofahrern auch, ich sehe den Straßenverkehr ganz normal vor mir. Der einzige Unterschied zwischen mir und den anderen Autofahrern sind meine zusätzlichen synästhetischen Empfindungen, die sich nicht störend auf mein Sehfeld auswirken.

Synästhesie heißt Mitempfindung. Es wird im Gehirn gleichzeitig bei einem Reiz eines Sinnesorganes, ein anderes Sinnesorgan mitgereizt. Das läuft zeitgleich ab und dieser Prozess ist nicht zu beeinflussen.

Da mir die Synästhesie angeboren ist, begleiten mich synästhetische Empfindungen mein Leben lang. Sie waren mir aber fast zwanzig Jahre nicht bewusst. Erst als im Musikunterricht in der 12. oder 13. Klasse die Fähigkeit des Farbenhörens bei mir entdeckt wurde, achtete ich verstärkt auf diese zusätzlichen Empfindungen.

Farbenhören bedeutet – alles das was ich höre, setzte ich automatisch in Farben und Formen um. Ich habe bemerkt, dass ich sie bewusst betrachten kann. Wenn ich mich auf eine Sache sehr konzentrieren muss, kann ich sie aber in den Hintergrund schieben. Meine Synästhesie kann ich aber nicht abschalten, sie läuft ständig mit.

Es gibt aber zwei Arten von Synnies, so nennen wir uns Synästhetiker abgekürzt gegenseitig. Einige von ihnen sind Projektoren, die Synästhesien außerhalb ihrer selbst und somit real wahrnehmen und Assoziatoren, welche diese Wahrnehmungen auf einem inneren Monitor abbilden. Ich erlebe meine Synästhesie assoziativ. Für die Projektoren unter den Synnies kann es im Straßenverkehr schon schwierig werden, sich voll auf den Verkehr zu konzentrieren. Die für sie zusätzlichen realen farbigen Eindrücke könnten störend auf sie einwirken und sie vom Verkehrsgeschehen ablenken.

 
 
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Bild „Wie ein assoziativer Synästhet im Straßenverkehr das Bremsen eines Autos wahrnimmt“/ Picture thanks to © Matthias Waldeck (Coppenbrügge/Germany)

 
 
 

Çiğdem Gül: Die Synästhesie ist eine Fähigkeit, in deren Genuss nur wenige Menschen kommen. Sie ist weder Krankheit noch Halluzination. Sie ist nicht gleichzusetzen mit Fantasie. Synästhesie ist eine besondere Wahrnehmung und Gabe. Wie kann mich mir die Synästhesie in der Hirnphysiologie vorstellen?

Matthias Waldeck: Bildgebende Verfahren bei wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass Synästhetiker ein komplexer vernetztes Gehirn haben. „…ein Plus also, eine Verbesserung der Hirnfunktion. Man könnte sagen, Synästhesie ist ein Luxus; eine Spielart der Evolution, die es dem Bewusstsein erlaubt, durch die Verknüpfung der Sinne und Kopplung mit Gefühlen mehr Informationen zu generieren. …die komplexere Vernetzung des Gehirns – Hyperkonnektivität nennen wir das – ist offensichtlich genetisch beeinflusst. Ist jemand Synästhetiker, dann sind es andere Familienmitglieder häufig auch, wobei Eltern und Kinder nie identische Verknüpfungen haben. Nicht einmal eineiige Zwillinge. Diese Studie hat zugleich gezeigt: Das eine Gen für Synästhesie gibt es nicht.“ (Siehe Markus Zedler, Medizinische Hochschule Hannover, Die Zeit – 23.05.2019).

Für die Wissenschaft ist es noch nicht erkennbar, wie das Gehirn es schafft, all´ die gleichzeitigen Sinneswahrnehmungen, Gefühle, Erinnerungen zu einem Gesamteindruck zu verbinden, damit man sich in der Welt zurechtfinden kann. Die Wissenschaft nennt das „Binding“, da bei der Synästhesie eine stärkere Verknüpfung vorliegt, spricht man vom „Hyperbinding“. Deshalb ist Synästhesie für viele Forscher ein wichtiges Thema, weil sie hoffen, diesen Unterschied irgendwann erklären zu können, um damit Erkenntnisse über das Entstehen von Bewusstsein, mit den dazugehörigen Prozessen im Gehirn, zu gewinnen.

 

Çiğdem Gül: Wie viele und welche Arten und Formen von Synästhesie gibt es? Je nachdem, ob man Synästhesie in Kombination mit Hochsensibilität und/oder Hochbegabung hat: Inwieweit unterscheiden sich diese Arten und Formen voneinander?

Matthias Waldeck: „Es gibt mindesten 80 verschiedene Synästhesien“, meint der amerikanische Synästhesieforscher Sean Day.

Die häufigste Synästhesie ist die Graphem-Farb-Synästhesie. Hier werden Buchstaben oder Wörter als farbig empfunden. Dann folgt das Farbenhören. Zeit-Raum-Synästhesie, gibt es auch sehr oft. Hier haben Tage, Wochen, Monate, Jahre eine bestimmte Anordnung in einem imaginären Raum. Personen-Farb-Synästhesie, Geruchs- und Geschmackssynästhesien, Töne-Sehen (die Umkehrung des Farbenhörens), auch Schmerzsynästhesien, dort wo der Schmerz sich befindet, hat man eine synästhetische Empfindung (Farbe, Form usw.) sind häufig anzutreffen.

Bestimmte Eigenschaften treten anscheinend gehäuft bei Synästhetikern auf. Dazu gehören Hochbegabung, Hochsensibilität und erhöhte Kreativität, aber ebenso Aufmerksamkeitsstörungen und räumliche Orientierungsschwierigkeiten. Auch kann es aufgrund der zusätzlichen Wahrnehmung schneller zu Reizüberflutungen kommen.

 

Çiğdem Gül: Unterscheidet sich die Art und Form der Synästhesie bei den Betroffenen in der Kindheit von der Synästhesie in der Jugend, Erwachsenenalter und im hohen Alter?

Matthias Waldeck: Die synästhetischen Verknüpfungen im Gehirn sind stabil. Alle synästhetischen Empfindungen, die man beim selben Reiz schon als Kind erlebt hat, erlebt man genauso auch im hohen Alter. In der Pubertät kann es passieren, so ist es mir ergangen, dass man die Farben kräftiger und die Formen etwas größer erlebt.

 

Çiğdem Gül: Wie erkennen und begegnen sich Synästheten untereinander?

Matthias Waldeck: Ich glaube auf den ersten Blick werden sie sich nicht gegenseitig erkennen. Erst, wenn im Laufe des Gesprächs zufällig das Thema Synästhesie berührt wird, ist es für beide Seiten spannend zu erfahren, wie beim Gegenüber die Synästhesie aussieht.

Für einen Synästhetiker ist es ganz normal, dass man diese Empfindungen hat. Er ist mit ihnen aufgewachsen und denkt, das haben meine Mitmenschen auch und spricht deshalb auch nicht drüber. Nur zufällige synästhetische Aussagen von ihm, lassen seine Mitmenschen aufhorchen. Er ist dann aber völlig überrascht, wenn er merkt, die habe nur ich und mein bester Freund z.B. hat sie nicht. Deshalb ist es meist ein Zufall, der die eigene Synästhesie ins eigene Bewusstsein bringt.

 

Çiğdem Gül: Während meiner Recherche, auch in der türkischsprachigen Literatur und auf türkischsprachigen Internetseiten, habe ich von einem Forscher namens Dr. Giles Hamilton-Fletcher erfahren, der in England auf einer der besten Universitäten; und zwar an der Sussex Universität das Thema Blindheit im Zusammenhang mit Synästhesie forscht. Die Ergebnisse seiner Studien liegen mir leider nicht vor. Daher möchte ich Sie fragen, wie blinde Menschen ihre Synästhesie wahrnehmen und ob dies für sie ein Ersatz-Sehen darstellt.

Matthias Waldeck: Die Geschichte der Synästhesie geht bis zum Ende des 17. Jahrhunderts zurück. Der englische Philosoph John Locke beschrieb 1690, dass ein Blinder einen Trompetenton als rote Farbe empfand. Von einem Bekannten, der von Geburt an nur Hell und Dunkel unterscheiden kann und Musiker ist, weiß ich, dass er synästhetische Farbempfindungen hat. Als Ersatz-Sehen kann man das aber nicht bezeichnen.

 

Çiğdem Gül: Verändert sich die Synästhesie bei Betroffenen, die sich geistig und emotional innerhalb von mehreren Sprachen und Kulturen bewegen?

Matthias Waldeck: Nein, die Synästhesie verändert sich in diesem Fall nicht. Es kann aber passieren, dass beim Erlernen einer neuen Sprache, Graphem-Farb-Synästhetiker am Anfang keine synästhetischen Empfindungen für die neuen Wörter haben. Das ändert sich meistens schnell, wenn ihnen das neue Vokabular vertrauter wird.

 
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Bild / Picture thanks to © 2019 Matthias Waldeck (Coppenbrügge/Germany)

 
 

Çiğdem Gül: Ich habe gelesen, dass die Synästhesie ein visuelles Erlebnis ist, die unabhängig vom Sehen stattfindet – also, direkt im Gehirn. Die Impulse des Sehnervs werden dabei nicht berücksichtigt. Herr Waldeck, wann und wie wurde Ihnen persönlich bewusst, dass bei ihnen ein visuelles Erlebnis der besonderen Art auf Ihrem inneren Monitor stattfindet?

Matthias Waldeck: Zu der Entdeckung meiner Synästhesie gibt es eine kleine Geschichte. Wie oben schon erwähnt, passierte es im Musikunterricht, etwa ein Jahr vor dem Abitur (etwa im Jahr 1974/1975). Unser Musiklehrer, Herr Langehein, hatte als Einführung für das Thema „Neue Musik“ das Vorspiel von Richards Wagner Oper „Rheingold“ ausgewählt. Er fragte jeden von uns, nachdem es verklungen war, nach unserer Meinung zu dem kurzen Musikstück. Als ich an die Reihe kam, sagte ich: „Das sind so braune, rote und gelbe Linien, die ziehen sich durch den Raum von der Tafel zum Fenster hin“. Alle schauten mich entgeistert an und ich bekräftigte daraufhin meine Aussage. Herr Langehein meinte daraufhin nur: „Farbenhören“. Jetzt sah ich ihn entgeistert an und fragte, was das sei. So richtig konnte er es mir nicht erklären, aber ich sollte darüber ein Referat halten. Tatsächlich fand ich in der Stadtbibliothek Hameln in einem Musiklexikon etwas über Farbenhören.

 

Çiğdem Gül: Überlappen sich Ihre synästhetischen Eindrücke mit dem visuellen Eindruck?

Matthias Waldeck: „Meine synästhetischen Wahrnehmungen sind unabhängig vom normalen Sehen. Ich sehe die Welt weder durch einen Schleier noch wird irgendetwas verdeckt. Die Synästhesie läuft unabhängig vom Sehen im Gehirn ab. Zwar ist der virtuelle Cortex (das Areal, das die Informationen des Sehnervs verarbeitet) am Entstehen einer Synästhesie beteiligt, aber dies wirkt sich nicht negativ auf das Erkennen meiner Umgebung aus. Die Bilder meiner Synästhesie sind schwächer als die gesehenen, aber stärker als die Bilder meiner Erinnerung. Letztere ist eher pastellfarbig. Die Wahrnehmungen der Synästhesie liegen in ihrer Stärke dazwischen. Es ist ein eigener Kanal.“

 
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Matthias Waldeck: „Während ich auf der visuellen Ebene keinen Einfluss auf das Gesehene ausüben kann, gelingt mir dies auf der Synästhetischen und der Erinnerungsebene. Zwischen diesen beiden kann ich wie beim Fernsehen hin- und herschalten.“

 
 

Matthias Waldeck: Die synästhetische Ebene ist mit meinem inneren Monitor gleichzusetzen. Dieser umgibt mich wie eine ausgebeulte Kugel, man könnte auch sagen, mich umgibt eine synästhetische Kugel. Sie erweitert oder verengt sich, je nachdem, wie weit der Ton oder das Geräusch entfernt ist. Bei Zimmerlautstärke ist der Innere Monitor etwa dreißig Zentimeter von meinem Kopf entfernt. Bei lauten Tönen erweitert sich die Kugel auf etwa ein Meter, wird es noch lauter, wie bei einem Livekonzert, dann kann die Größe einer Kinoleinwand erreicht werden.

Das Bild wandert mit der Tonrichtung. Kommt der Laut von hinten, empfinde ich das Bild auch hinter meinem Kopf. Höre ich Musik von unten rechts, steht das Bild unten rechts. Die Größe der Abbildung schwankt zwischen einer Briefmarke bei leisen Tönen und mehreren Metern bei Livekonzerten.

Ich kann wie beim normalen Sehen nur einen kleinen Teil meiner synästhetischen Empfindungen scharf sehen. Je größer die Kugel, desto mehr muss ich meinen inneren Blick auf meinem Inneren Monitor von der einen Seite zur anderen bewegen, um irgendein Detail genau betrachten zu können und dass ist irgendwann anstrengend. Darum versuche zu laute Musik oder Geräusche über längere Zeit zu meiden, was bei einem Konzert natürlich schwierig ist.

Deshalb ist für mich das Auto der ideale Platz, um Musik zu hören. Dadurch, dass die Lautsprecher eng beieinanderstehen, baut sich mein Innerer Monitor nur in einer geringeren Größe vor mir auf. Er ist etwas kleiner als die Windschutzscheibe. Durch diese komfortable Größe empfinde ich die Farben und Formen der Musik leicht rechts in der Höhe des Lenkrads vor mir. Mein inneres Auge bewegt sich dann kaum und das ist sehr entspannend.

 
 
 
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Bild „Wie ein Synästhet die elektronische Musik wahrnimmt“ / Picture thanks to © Picture thanks to © 2019 Matthias Waldeck (Coppenbrügge/Germany)

 
 

Çiğdem Gül: Sie verbinden gleichzeitig zwei Formen der Synästhesie, die „genuine Synästhesie“ und die „intermodale Analogie“. Daher sagten Sie einmal, dass Sie ein Farbenhörer sind, das heißt, alles das, was Sie hören, setzen Sie automatisch in eine Farbe und Form um. Innerhalb dieses Farbenhörens besteht bei Ihnen noch eine Notationssynästhesie. Die Töne werden jeweils in ihrer Höhe abgebildet, wie auf einem Notenblatt. Außerdem besitzen Sie noch die Synästhesie Tickertapes und eine Schmerzsynästhesie. Bei Tickertapes handelt es sich um ein Laufband, wie im Fernsehen, auf dem alles was Sie an Wörtern sprechen, hören oder denken, im Inneren Ihres Kopfes geschrieben wird. Das ist ja unglaublich spannend! Erzählen Sie bitte mehr darüber.

Matthias Waldeck: Viele Synästheten haben Tickertapes. Das kann die Kommunikation mit den Mitmenschen manchmal beinträchtigen.

Stimmen sind bei mir grundsätzlich grau, manchmal mit kleinen Einfärbungen. Sie sind immer mit einer Textur versehen. Alle gesprochenen, gesungenen oder gedachten Wörter sehe ich zusätzlich geschrieben, in der Tonhöhe der Aussprache auf meinem inneren Monitor und zwar aus der Richtung, aus der sie gesprochen werden. Das Lesen dieser Tickertapes wird schwierig, wenn Störgeräusche auftreten. Dann passiert es oft, dass ich das Wort nicht lesen kann und ich es nicht verstehe, denn bevor ich es nicht gelesen habe, kann ich auf das Gesagte nicht reagieren. Das ist bei größeren Veranstaltungen ziemlich nervig, da sich dann die Worte oft überlagern oder ein zu lautes Geräusch den Lesefluss unterbricht. Entweder ich habe einen Buchstabensalat, weil mehrere Tickertapes aus verschiedenen Richtungen auf mich einströmen und sich überlagern oder das Geräusch löscht Wörter aus. Ich muss dann, weil ich es nicht lesen konnte nachfragen, was mein Gesprächspartner gesagt hat. Das ist dann, wenn es oft passiert, ziemlich nervig. Oft hat aber mein Gehirn, in dem Augenblick, wenn ich frage, den Satz vervollständigen können.

Wie ich soeben gesagt habe, läuft ein Tickertape auch beim Denken mit. Dieses Tickertape wird durch die beschriebenen Störungen nicht beeinträchtigt. Es ist läuft stets waagerecht in etwas kleineren Buchstaben über mir.

 
 
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Bild „Schriftfoto“/ Picture thanks to © 2019 Matthias Waldeck (Coppenbrügge/Germany)

 
 

Çiğdem Gül: Sie sind Fotograf und Maler in Coppenbrügge in Niedersachsen/Deutschland. Mich interessieren Details Ihrer Fotografien und Kunstbilder. Was sind darin Ihre Themen? Und warum?

Matthias Waldeck: Schon als kleines Kind interessierte ich mich für Strukturen und Muster. Baumrinde oder die Farbigkeit von Glasmurmeln hat mich damals sehr fasziniert. Als ich in den sechziger Jahren die ersten nichtgegenständlichen Gemälde in einer Zeitschrift sah, war das für mich ein ergreifendes Erlebnis. Ich konnte mir das aber nicht erklären, warum ich solche, wie meine Eltern meinten, „hingeschmierten“ Bilder, gut fand. Als die Synästhesie bei mir entdeckt wurde, begann ich langsam zu begreifen, dass diese Werke in ähnlicher Form sich auch in meinem Inneren ständig bilden und eine Resonanz auslösen, die stets mit einer positiven emotionalen Reaktion verbunden ist.

Ich begann malerisch, mich diesen inneren Formen auf Leinwänden zu nähern, um mehr Klarheit über meine synästhetischen Vorgänge zu gewinnen. Irgendwann entdeckte ich, dass viele meiner Fotos synästhetisch beeinflusst sind. Ich hatte schon immer ein Faible für die S/W-Fotografie. Das mag auch daran liegen, dass ich Geräusche vorwiegend als graue Strukturen empfinde, die versuche ich fotografisch umzusetzen. Am liebsten bilde ich sie in S/W-Fotos ab. In der Farbfotografie sind es eher verschwommene Flächen die mich reizen, da ich meine synästhetischen Formen auch leicht verschwommen empfinde.

Ich bin aber auch fotografisch normal unterwegs. Am liebsten fotografiere ich Landschaften und Blumen. Aber auch hier versuche ich, wenn sich vor Ort die Gelegenheit bietet, synästhetische Elemente mit einzubeziehen. Das geschieht meistens mit einem extrem unscharfen Vordergrund, der mich dann irgendwelche an synästhetischen Formen erinnert.

 

Çiğdem Gül: Ich stelle mir gerade folgende Situation vor: Sie sind als Fotograf unterwegs und fotografieren im Auftrag eines Normalo-Kunden. Sie sehen durch die Linse die Objekte und Subjekte durch Ihr mehrdimensionales synästhetisches Wahrnehmungsfilter und fotografieren entsprechend. Wenn Sie das Foto aber dem nicht-synästhetischen Kunden vorlegen würden, würde er mit seinem eindimensionalen Sehvermögen nur das „Normale“ auf dem Bild sehen. Entstehen dadurch Missverständnisse, Probleme oder Konfliktsituationen? Wenn ja, wie lösen Sie solche Situationen?

Matthias Waldeck: Bei solchen Aufträgen entstehen keine Probleme, da meine Synästhesie meine reales Sehen nicht beeinflusst.

 

Çiğdem Gül: Sie haben einmal geschrieben: „Im Nahbereich fotografiere ich vorwiegend Strukturen, die mich oft an Geräusche erinnern. Da die Geräusche meistens graue Eindrücke hinterlassen, dominiert dann die Schwarz-Weiß-Fotografie. Ein weiteres Gebiet ist die Typographie. Da ich alle gesprochenen Worte automatisch geschrieben auf meinem inneren Monitor projiziere, reizt es mich, Schriften zu fotografieren.“ Können Sie uns bitte dazu ein Bild zeigen?

Matthias Waldeck: Gerne möchte ich Ihnen dieses Bild zeigen. (zeigt das unten stehende Bild)

 
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Bild „Schriftfoto“ / Picture thanks to © Matthias Waldeck (Coppenbrügge/Germany)

 
 

Çiğdem Gül: Zu den berühmten Synästheten gehören z. B. der Dichter Johann Wolfgang von Goethe, der musikalische Bilder malende Wassily Kandinsky, der amerikanische Physik-Nobelpreisträger Richard Feynman, die US-amerikanische Sängerin Lady Gaga, die Musiker F. Liszt, J. Sibelius, Jimmy Hendrix und Billy Joel. Welche Vor- und Nachteile ergeben sich privat und beruflich, ein Synästhet zu sein?

Matthias Waldeck: Die genannten Personen waren oder sind alle kreativ. Das ist ein Merkmal der Synästhesie, die erhöhte Kreativität. Sie wird deshalb von Synnies auch verstärkt beruflich genutzt. Deshalb möchten fast alle Synästhetiker ihre Synästhesie nicht missen, sie finden sie als Bereicherung, weil sie zu ihrem positiven Lebensbild entscheidend beiträgt. Synästhetiker können aber auch unter ihrer Synästhesie leiden. An dieser Stelle möchte ich gerne Markus Zedler zitieren. Er schrieb bei „Die Zeit“ am 23.05.2019 folgendes: „Wenn sie sich in ihrem Erleben sehr von ihrem Umfeld unterscheiden. Synästhetiker wünschen sich Austausch und Verständnis mit Gleichen, fürchten aber, von Nichtsynästhetikern als Spinner stigmatisiert zu werden. …Das verursacht enorme Probleme.“

 

Çiğdem Gül: Es gibt seltene Fälle, dass jemand nach einem Unfall plötzlich Genie wird oder plötzlich Sprachen sprechen kann, die er nicht gelernt und zuvor gesprochen hat. Gibt es solche Wunder auch bei dem Thema Synästhesie?

Matthias Waldeck: Das könnte sein, ist mir aber nicht bekannt.

 

Çiğdem Gül: Es wäre mir eine große Freude, wenn Sie mit Ihrer synästhetischen Wahrnehmung unser „Interkulturelles Netzwerk für Hochbegabte“ beschreiben würden. 

Matthias Waldeck: Ich finde, dass das Interkulturelle Netzwerk für Hochbegabte ein wichtiges Angebot für Menschen ist, die geistige Herausforderungen lieben. Die Menüpunkte, Seiten und Beiträge auf der Webseite des Netzwerkes sind sehr übersichtlich angelegt. Das sehr vielfältige Angebot an vertiefenden Texten, Interviews, aber auch Gedankenspielereien zu aktuellen sozialen und zwischenmenschlichen Themen ist die Stärke des Interkulturellen Netzwerkes für Hochbegabte.

 

Çiğdem Gül: Der deutsche Lyriker und Synästhet Carlo Karges schrieb das Gedicht „Wer Schmetterlinge lachen hört, der weiß, wie Wolken schmecken“. Haben Sie in Ihren Wahrnehmungsdimensionen und -vielfalt auch Gedichte geschrieben oder Lieder komponiert? Wenn ja: Welches Gedicht oder welche Komposition können Sie uns vorstellen?

Matthias Waldeck: Ja, ich schreibe auch Gedichte. Ich möchte Ihnen gerne mein folgendes Gedicht vorstellen:

 

Magischer Moment

 

Der grün-blauen Wellen graues Rauschen,

des Austernfischers rotes Pfeifen,

des Windes verschlungene graue Schleier,

des Sandes schwarzweißes Knacken,

lichtdurchflutenes Blau,

ein magischer Moment am Strand,

er nimmt mich innerlich gefangen.

In weiter Ferne die Bootsflüchtlinge,

ihr magischer Moment?

Einlaufen in einen Hafen!

 

Matthias Waldeck

 
 
 

Çiğdem Gül: Unser „Interkulturelles Netzwerk für Hochbegabte“ kooperiert seit Anfang 2019 mit der „Deutschen Synästhesie- Gesellschaft e. V.“. Sie sind einer der Gründungsmitglieder dieses Vereins, der im Mai 2005 von Synästheten und Wissenschaftlern gegründet wurde. Anlass dafür war die hohe Resonanz auf einer internationalen Synästhesie-Konferenz an der Medizinischen Hochschule Hannover im Jahre 2003. Würden Sie uns bitte von Ihrem Engagement im Verein erzählen?

Matthias Waldeck: Ich war eine Zeit lang Beisitzer im Vorstand des Vereins und möchte, da ich jetzt mehr Zeit dafür habe, mich mehr für das Thema „Synästhesie bei Kindern“ zu engagieren. Viele Eltern wissen nichts von den synästhetischen Eigenschaften ihrer Kinder. Meist kommt diese Begabung zufällig ans Licht und die Eltern sind dann oft unsicher, wie sie sich in dieser Situation verhalten sollen. Auch das Kind wird meistens merken, dass es oft missverstanden wird. Das kann für beide Seiten zu einer Belastung werden. Konflikte mit gleichaltrigen Kindern sind dann meist vorprogrammiert. Im schlimmsten Fall kann es zum Mobbing und damit zu psychischen Krisen bei dem Kind kommen. Es ist deshalb auch ein großes Anliegen der Deutschen Synästhesie-Gesellschaft, hier wichtige Aufklärung zu leisten, das heißt für mich, die Kindergärten meiner Umgebung zu besuchen und einen Vortrag vor den Eltern über Synästhesie zu halten.

Frau Gül, ich erinnere mich, dass Sie bereits auf der Webseite des Interkulturellen Netzwerkes für Hochbegabte einen Beitrag von Jana Pikora mit der Überschrift „Wahrnehmung ist eine taumelnde Gazelle – über den Umgang mit synästhetisch veranlagten Kindern“ veröffentlicht hatten.

 

Çiğdem Gül: Herr Waldeck, ich danke Ihnen für das Gespräch.

 
 
 
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Bild / Picture thanks to © 2019 Matthias Waldeck (Coppenbrügge/Germany)

Herr Waldecks Bild „Der Wind hat mein Lied zerstört“.
Die gelbe Linie ist ein Trompetenton, die roten Punkte stellen Klaviertöne dar, die graue Fläche ist der Wind, der so laut ist,
dass er die unteren Klaviertöne unterbricht.

 
 
 
 
 

Weiterführende Literatur

 

Cytowic, Richard E.: „Farben hören, Töne schmecken. Die bizarre Welt der Sinne“, Byblos Verlag 1999

Professor Dr. Dr. Emrich, Hinderk M. /Schneider, Udo / Zedler, Markus: „Welche Farbe hat der Montag?: Synästhesie: das Leben mit verknüpften Sinnen“. S. Hirzel Verlag 2016

Dittmar, Alexandra: „Synästhesien – roter Faden durchs Leben“. Die Blaue Eule Verlag, 2007

Sinha, Jasmin: „Synästhesie der Gefühle: Tagungsband zur Tagung „Die fröhliche Sieben“ – Synästhesie, Personifikation und Identifikation“. Synaisthesis Verlag, 2009

Wallner, Sabrina: „Hypersensitiv: Synästhesie – Das unbegrenzte Potential des menschlichen Geistes“. Verlag: Crotona Verlag GmbH, 2016

Wohler, Arnold: „Synästhesie als ein strukturbildendes Moment in der Kunst des 20. Jahrhunderts: unter besonderer Berücksichtigung von Malerei und Musik“