Prof. Dr. Mihran Dabag im Interview: Ursachen kollektiver Gewalt im 20. & 21. Jahrhundert


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Bildquelle: © 2020 Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Mihran Dabag (Bochum/Deutschland)

 
 
 
 

Genozid und Diaspora

 

Ursachen und Strukturen kollektiver Gewalt im 20. & 21. Jahrhundert

und die Ereignisse 1915 an den Armeniern 

 
 
cigdem gül

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Prof. Dr. Mihran Dabag 

Direktor des Instituts für Diaspora und Genozidforschung

Professor an der Ruhr Universität Bochum/Deutschland

Autor und Herausgeber der Zeitschrift für Genozidforschung

 

& 

 

Çiğdem Gül

Gründerin, Publizistin, Journalistin & Autorin des weltweiten INHG

Wirtschaftswissenschaftlerin, freie Journalistin

Change Management Consultant und Business Coach

 
 
 
 

Prof. Dr. Mihran Dabag, geboren 1944 als Sohn eines armenischen Genozid-Überlebenden in Diyarbakır/Türkei, studierte in Deutschland Philosophie, Soziologie, Politologie und Geschichtswissenschaft in Bonn und Bochum. Er ist Professor an der Geschichtswissenschaftlichen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum/Deutschland, und seit 1994 Direktor des Instituts für Diaspora und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum. 

Prof. Dr. Mihran Dabag hat zahlreiche Bücher über Gewalt, Genozid und Kolonialismus veröffentlicht und ist Herausgeber der Zeitschrift für Genozidforschung. Er erhielt 2003 den Franz-Werfel-Menschenrechtspreis und 2009 das Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland.

 

Çiğdem Gül führte mit Prof. Dr. Mihran Dabag das Gespräch anlässlich des 105. Jahrestages des Völkermordes an den Armeniern und in Anlehnung an ihrem separaten aktuellen Artikel zum Thema des armenischen Genozids.

 
 
 

24. April 2020 

INTERVIEW 

 

Çiğdem Gül: Warum fehlen in der globalen Welt die Wertschätzung und der Respekt vor Minderheiten? Liegt es einfach daran, weil die Minderheiten quantitativ nicht in der Mehrheit sind, oder gibt es andere Gründe dafür?

Prof. Dr. Mihran Dabag: Beginnen wir zunächst mit der Klärung der Begriffe „Minderheit“ und „Mehrheit“: Die Frage der Minderheit und Mehrheit von Bevölkerungsgruppen hat je einen festen historischen Ort. Im Zeitalter der Territorialstaaten und der klassischen „Reiche“ waren Minderheit und Mehrheit keine Ordnungskategorien, eigentlich spielten sie für das Selbstverständnis von Gruppen keine besondere Rolle.

Die Begriffe „Minderheit“ und „Mehrheit“ – beziehungsweise „Minorität“ und „Majorität“ – entstammen ursprünglich dem Kontext des Konstitutionalismus und Parlamentarismus, also dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, wobei Gleichheit und Gleichberechtigung Einzelner entlang von Abstimmungsprozessen gedacht wurden. Die zentrale Grundlage dieses Konzeptes besteht dabei in der Annahme, dass im Wettbewerb der Meinungen die Positionen von Mehrheiten und Minderheiten wechseln und Interessen auf diese Weise letztlich ausgeglichen werden. Mit dem Aufkommen des Nationalstaats und insbesondere durch die Verbindung des Nationalstaatsprinzips mit dem Konstitutionalismus, wurde das Majoritätsprinzip und die Begriffsopposition „Mehrheit“/“Minderheit“ auf ein Verhältnis zwischen staatsbestimmenden beziehungsweise staatsbeherrschenden Gruppen einerseits und „fremden“ Gruppen andererseits übertragen.
Dem Nationalstaat liegt dabei ja der Gedanke zugrunde, dass ein funktionierender Staat notwendigerweise durch eine homogene Bevölkerung getragen werden müsse, die als Titularnation dem Staat dann auch seinen Namen gibt. Frankreich als Nationalstaat der Franzosen, Deutschland als Nationalstaat der Deutschen oder die Türkei als Nationalstaat der Türken.

Der Nationalstaat beruht also auf der Annahme einer gewissermaßen natürlichen Identität von Territorium, Bevölkerung, Kultur und Herrschaft.

Mit der „Eroberung des Staates durch die Nation“, so Erwin Viefhaus, wurden die Mehrheitsverhältnisse gewissermaßen ethnisiert: Bevölkerungsgruppen und Gemeinschaften, die nicht zur Titularnation gehören, wurden nun nämlich als „Minderheiten“ betrachtet. Und diese nationalen oder ethnischen Minderheiten erscheinen dabei aus der Perspektive des Nationalstaats als eine Herausforderung, sogar als Störung für die postulierte Homogenität der Nation.

 
 

Prof. Dr. Mihran Dabag: „Rassismus ist historisch gesehen ein relativ neues Phänomen. […] Die Erfahrung des Fremden einerseits und Rassismus andererseits stehen nicht in einem kausalen Zusammenhang.“

 
 

Çiğdem Gül: Wir sprechen aber doch auch von den Minderheiten im Osmanischen Reich?

Prof. Dr. Mihran Dabag: Im Zusammenhang mit dem Osmanischen Reich von „Minderheiten“ und „Mehrheit“ zu sprechen, ist aber falsch. Das Osmanische Reich kannte keine „Minderheit“ und keine „Mehrheit“ von Bevölkerungsgruppen. Das Osmanische Reich kannte dementgegen ein System von Gruppenrechten, das sogenannte Millet-System. Erst nachdem im Jahr 1923 die Türkei als Nationalstaat gegründet wurde, stellte sich die Frage von „Minderheiten“, sodass die Armenier und die Griechen in der Türkei als Minderheiten betrachtet wurden und zu „Minderheiten“ geworden sind.

 
 
 
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Bildquelle: © 2020 Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Mihran Dabag (Bochum/Deutschland)

 
 

Prof. Dr. Mihran Dabag: „Genozid ist nicht das Ergebnis eines Konflikts. Genozid ist eine Politik, eine Politik der Verwirklichung nationaler Selbstentwürfe.“

 
 

Çiğdem Gül: Ich würde verstehen wollen, warum Rassetheorien und Rassismus gerade in der Moderne so geschichtsmächtig geworden sind. Was sind die eigentlichen Gründe hierfür und für die daraus resultierende Massenvernichtung von ausgewählten Gruppen?

Prof. Dr. Mihran Dabag: „Rasse“ als modernes Konzept hat etwas mit der Entwicklung der Naturwissenschaften, der Biologie und der Medizin zu tun. Das hat sich vor allem im späten 18. und im 19. Jh. entwickelt. Zuvor war der „Rasse“-Begriff noch keine wirklich feste Kategorie. Erst mit den Gedanken von Biologie und Evolution wurde das Rasse-Konzept zu einer „wissenschaftlichen“ Kategorie, mit der man glaubte, „Unterschiede zwischen Völkern“ gewissermaßen naturwissenschaftlich erklären und so eine Hierarchisierung vornehmen zu können.
Ein Höhepunkt ist hier sicherlich der Antisemitismus und Rassismus des Nationalsozialismus, der in die Katastrophe der Vernichtung der europäischen Juden, der Sinti und Roma geführt hat, aber auch zum Vernichtungskrieg im Osten Europas.

Çiğdem Gül: Entsteht Rassismus also nicht aus einer Erfahrung mit dem Fremden?

Prof. Dr. Mihran Dabag: Mit Erfahrung hat Rassismus erstmal gar nichts zu tun. Er ist vor allem eine Ideologie, eine gesellschaftsdeutende Konstruktioni, die vorgibt, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen zu beruhen und vor dem Hintergrund dieser „Erkenntnisse“ Menschen in „höherwertig“ und „minderwertig“ einteilt. Und, wie ich schon sagte, Rassismus ist historisch gesehen ein relativ neues Phänomen.
Die Frage des Fremden dagegen ist nichts Neues, sie wurde bereits in der antiken Philosophie durchdacht, so etwa von Aristoteles oder Platon. Es ging dabei nicht zuletzt auch um Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zur demokratischen Staatsordnung, etwa in der athenischen Polis. Dort kannte man die Gleichwertigkeit und Gleichstellung des Fremden nicht. Der Fremde wurde durchaus als eine Gefährdung angesehen, als nicht-zugehörig, als Außerhalb, vielleicht sogar als Feind.
Aber die Erfahrung des Fremden einerseits und Rassismus andererseits stehen nicht in einem kausalen Zusammenhang.

Çiğdem Gül: Aber spielt bei einem Völkermord nicht Fremdenfeindlichkeit, Hass auf das Fremde eine Rolle?

Prof. Dr. Mihran Dabag: Ein Völkermord hat nicht zuvorderst mit Hass zu tun. Er hat vor allem mit Politik zu tun.

Çiğdem Gül: Mit Politik?

Prof. Dr. Mihran Dabag: Ja, mit einer Politik der nationalen Identität, mit dem Ziel der Verwirklichung der von mir vorhin angesprochenen nationalen Vision. Genozid ist nicht das Ergebnis eines Konflikts. Genozid ist eine Politik, eine Politik der Verwirklichung nationaler Selbstentwürfe.

Wenn ich über Genozid rede, rede ich nicht in erster Linie über die ausgeübte Gewalt. Rede ich über Gewalt, dann nur im Zusammenhang mit der politischen Zielsetzung. Das heißt: Die genozidale Politik hat in erster Linie mit der Verwirklichung und Sicherung der eigenen Identität zu tun und somit mit der Verwirklichung einer nationalen Zukunft durch Gewalt. Dabei wird die Gewalt eingesetzt, um die eigenen politischen Ziele zu erreichen, die politischen Visionen von einer Zukunft zu verwirklichen. Genozid ist der Versuch, den visionären Selbstentwurf einer Gesellschaft in kürzester Frist zu verwirklichen, nämlich innerhalb der Lebenszeit der eigenen Generation.

Çiğdem Gül: Das ist eine sehr wichtige Aussage. Das würde ich gerne am Beispiel des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich etwas vertiefen:

Das vom Islam geprägte Osmanische Reich, auch bezeichnet als Devlet-i ʿOs̲mānīye, war ein Vielvölkerstaat. Der absolute Herrscher war der Sultan. Zwar verfügte er über ein Beratungsgremium und auch über Minister, aber es gab kein Parlament und keine andere Vertretung der Bevölkerung. Im 16. Jh. dehnt sich die Türkei damals als Osmanisches Reich über mehrere Kontinente aus.

Prof. Dr. Mihran Dabag: Ja, genau.

 
 
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Bildquelle: © 2020 Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Mihran Dabag (Bochum/Deutschland)

 
 

Çiğdem Gül: Das armenische Volk ist das älteste christliche Volk der Welt. Es wurde im Laufe seiner Geschichte zwischen unterschiedlichen Herrschaftsgebieten aufgeteilt: Ostarmenien, die heutige Republik Armenien im Kaukasus, war zunächst unter persischer, dann unter russischer Herrschaft; Westarmenien geriet unter die Herrschaft des Osmanischen Reichs, wo die Siedlungsgebiete der Armenier vor allem in Ostanatolien lagen.

Prof. Dr. Mihran Dabag: Ja, vielleicht sollte ich kurz etwas über die Stellung der Armenier im Osmanischen Reich sagen. Die Armenier gehören zu den autochthonen Bevölkerungsgruppen Kleinasiens und bildeten zwischen dem 7. Jahrhundert vor Christus und dem 14. Jahrhundert nach Christus politische Herrschaften, die in verschiedenen Abhängigkeiten von Persien, Rom, Byzanz und der arabischen Herrschaft standen. Zuletzt war das Siedlungsgebiet der Armenier geteilt zwischen dem Russischen und dem Osmanischen Reich. Diese Teilung hat auch die Entwicklung einer unter persischer und dann russischer Vorherrschaft stehenden ostarmenischen Traditionslinie und einer unter osmanischer Herrschaft stehenden westarmenischen Traditionslinie zur Folge gehabt. Dies betraf nicht nur die politische Entwicklungen, sondern auch sprachlich-kulturelle.

Çiğdem Gül: Was waren die Besonderheiten des armenischen Lebens im Osmanischen Reich vor dem Genozid im Jahr 1915?

Prof. Dr. Mihran Dabag: Als nicht-muslimische Gemeinschaft waren die Armenier im Osmanischen Reich der muslimischen Bevölkerung nicht gleichgestellt. Sie bildeten ein sogenanntes „Millet“. Damit wurde der Gemeinschaft ein Existenzrecht, ein Ort und ein Status innerhalb des Osmanischen Gesellschaftssystems zugestanden, der zwar von Nichtgleichberechtigung, von Minderrangigkeit und Rechtsunsicherheit bestimmt war, der aber doch der Gemeinschaft das Überleben gesichert hat.

Unter dem Eindruck der Französischen Revolution wurde im Osmanischen Reich in den 1830er Jahren die Gleichstellung aller Untertanen verkündet. Damit begann in den nicht-muslimischen Gemeinschaften des Osmanischen Reichs ein politischer Emanzipationsprozess, den die Armenier als Zartonk, Erwachen, bezeichnen.

In der Zeit zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Jahr 1915 kam es zu einer Blüte unter den Armeniern in den städtischen Zentren Westanatoliens wie Konstantinopel (Istanbul), Smyrna (Izmir) und Trapezunt (Trabzon), die nach und nach auch in die armenischen Siedlungsgebiete in Ost- und Südostanatolien ausstrahlte. Allerdings änderte sich am Leben der Armenier im Ostanatolien wenig. Ihr Leben war weiterhin bestimmt von Diskriminierung, Verfolgung und Schutzlosigkeit.

Çiğdem Gül: Warum konnten in Anatolien die Armenier sich nicht selbst schützen?

Prof. Dr. Mihran Dabag: Nach dem Islamischen Recht durften im Osmanischen Reich die Nicht-Muslime, also die Armenier, keine Waffen tragen. Außerdem galt ihre Zeugenschaft nicht vor einem Gericht, wenn es mit einem Muslimen zu tun hatte.

Im Osmanischen Reich wurde das Steuersystem zentralisiert. Das bedeutete für die wirtschaftlich schlecht gestellten Armenier in Anatolien eine doppelte steuerliche Belastung, weil sie sowohl direkt an den Staat die Steuern zahlen mussten, als auch lokal an die Ağas, die Besitzer des Dorfes. Die Armenier in Anatolien waren sowohl den Konflikten und Gewalt der Ağas als auch der willkürlichen Gewalt von Kurden – teils im Auftrag des Reiches – ständig ausgesetzt.

Çiğdem Gül: Die Jungtürken waren eine politische Bewegung im Osmanischen Reich, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts illegal auf liberale Reformen und eine konstitutionelle Staatsform hinarbeitete. Ziel war die Stärkung des außenpolitisch geschwächten und innenpolitisch vom Zerfall bedrohten Reiches durch systematische politische, militärische und wirtschaftliche Modernisierung. Die wichtigste jungtürkische Partei war die „İttihat ve Terakki“. Das Komitee für Einheit und Fortschritt war ein Zusammenschluss von mehreren Gruppen aus dem Aus- und Inland, die alle gegen die Herrschaft Abdülhamid II. kämpften.

Prof. Dr. Mihran Dabag: Auch die Jungtürken sind eigentlich eine Folge der Reformen seit den 1830er Jahren. Gleichzeitig mit den Emanzipationsbewegungen der nicht-muslimischen Gemeinschaften entwickelte sich nämlich auch ein dezidiert nationales Bewusstsein im herrschenden osmanisch-türkischen Millet. Ziel dieser Bewegung war es zunächst, die despotische Herrschaft von Sultan Abdülhamid II. zu beenden, der aufgrund seiner Massakerpolitik auch „Der Rote Sultan“ genannt wurde. Dieser Massakerpolitik waren in den 1890er Jahren bis zu 200.000 Armenier zu Opfer gefallen waren. Aber die Jungtürken wollten zunehmend auch den Osmanischen Vielvölkerstaat in einen türkisch beherrschten Nationalstaat umwandeln. Ihr Ziel war die Rettung des Osmanischen Reiches mit einer national-türkischen Vision.

Çiğdem Gül: Können Sie vielleicht noch etwas über die organisatorische und ideologische Entwicklung der Jungtürken sagen?

Prof. Dr. Mihran Dabag: Im Jahr 1889 hatten Osmanische Intellektuelle unter den Studenten in der militärmedizinischen Akademie in Istanbul die Geheimorganisation „İttihad-ı Osmani Cemiyeti“ (später das „Komitee für Einheit und Fortschritt“) gegründet. Die Mitglieder dieser häufig als „Jung-Osmanen“ bezeichneten Gruppe kamen aus ganz unterschiedlichen muslimischen Gemeinschaften des Osmanischen Reichs. Der Führer dieser Gruppe war ein Albaner namens Ibrahim Starova, der sich Ibrahim Temo nannte. Geleitet waren diese sogenannten Jung-Osmanen von einer Idee des „Osmanismus“, das heißt einer auf Territorialität und Geschichte gründenden Identität des Osmanischen Reichs. Dieses Programm des Osmanismus wandelte sich aber sehr schnell zu einem zunehmend exklusiveren türkischen Nationalismus, mit dem auch eine territoriale Neuausrichtung nach Osten, zu den turksprachigen Völkern Zentralasiens einherging. Dieses Konzept nennt man „Türkismus“, die damit verbundene territoriale Vision bezeichnet man als „Turanismus“. Ziya Gökalp, der vielleicht wichtigste Theoretiker oder Ideologe der Jungtürken, sagte später, dass der Osmanismus ein geheimer Weg zum Türkismus gewesen sei.

Çiğdem Gül: Was beinhaltet denn dieser Türkismus der Jungtürken?

Prof. Dr. Mihran Dabag: Naja, eines der Probleme der Jungtürken bestand ja gerade darin, zu beschreiben, was ein „Türke“ ist beziehungsweise worauf eine „türkische Nation“ zu gründen sei. Dazu gab es eine sehr dichte Diskussion unter den jungtürkischen Intellektuellen. Das kann ich hier gar nicht im Detail wiedergeben. Wichtig ist, dass die Identität nicht mehr allein religiös bestimmt sein sollte, sondern ethnisch – und dass eine Nation nicht auf einem, wie es der bereits erwähnte Ziya Gökalp formuliert hat, „Amalgam von Völkern“ gegründet werden könnte. Aber Religion, der Islam, blieb dennoch wichtig. Er wurde zu einem unter mehreren Kriterien, die darüber entschieden, was zu einer türkischen Identität dazu gehörte und was nicht: Sprache, Kultur, Abstammung, Erziehung und Religion.

 
 

Çiğdem Gül: „Herr Dabag, habe ich Sie richtig verstanden? – Also, nicht die Angst der Jungtürken, dass eine Gruppe rebellierender Armenier einen eigenen Staat gründen könnten, sondern dieser unlösbarer Widerspruch führte im Osmanischen Reich zum Genozid an den Armeniern?“

 
 

Çiğdem Gül: Und warum waren die Armenier in dieses Konzept nicht integrierbar?

Prof. Dr. Mihran Dabag: Weil die Konfrontation der Idee des Nationalstaats mit dem islamischen Gesellschaftsverständnis in einen unauflösbaren Widerspruch führte. Das Islamische Recht macht ja grundsätzlich eine Unterscheidung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen. Hier stellt sich die Frage der Integration eigentlich nicht. Ich hatte eben erwähnt, dass einige nicht-muslimische Gemeinschaften im Millet-System geduldet waren. Sie waren rechtlich nicht gleichgestellt, nicht gleichberechtigt, aber ihre Existenz war anerkannt.

Ein Nationalstaat, der von Gleichberechtigung aller Mitglieder ausgeht, steht dazu im Widerspruch. Denn mit der Gleichberechtigung aller Bürger, stellt sich auch die Frage danach, für wen diese Gleichheit gelten soll. Also: „Wer ist gleich?“ und „Wer ist nicht gleich“? Wer ist ein Bürger und wer nicht? Wer ist in die nationale Gemeinschaft der Gleichen integrierbar und wer nicht?
Meine These ist, dass die axiomatische Setzung der Unterscheidung zwischen Muslime und Nicht-Muslime im Kontext des Umwandlungsprozesses des ethno-religiös stratifizierten Osmanischen Reichs zu einer Gleichheit seiner Bürger einfordernden Nationalstaat in eine Aporie führte. Die Jungtürken hatten geglaubt, sämtliche Muslime, etwa die Kurden des Osmanischen Reiches, türkisieren zu können – über die Sprache, Erziehung, Bildung. Aber die Integration der Nicht-Muslime war für sie ein Ding der Unmöglichkeit. Die Unauflösbarkeit dieser Aporie sollte schließlich mit Gewalt gelöst werden: mit der Vertreibung und Vernichtung der Armenier und anderer nicht-muslimischer Bevölkerungsgruppen des Osmanischen Reichs.

Çiğdem Gül: Das ist ja interessant!

Prof. Dr. Mihran Dabag: Der Genozid ist in diesem Sinne ein Instrument des Social Engineering, der Bevölkerungspolitik, mit der Gesellschaft gestaltet werden sollte. Der jüdische-polnisch Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman hat in diesem Zusammenhang das Bild vom „Garten und Gärtner“ in Spiel gebracht und damit die Politik des Völkermords zu charakterisieren versucht. Es ist der Gärtner, der bestimmt, wie der Garten auszusehen hat. Er schneidet das Unkraut heraus und düngt die Pflanzen, die nach seinem Bilde in den Garten gehören. Interessanterweise verwendete Ziya Gökalp, der wichtigste Ideologe der Jungtürken im Osmanischen Reich, ebenfalls das Bild vom „Garten und Gärtner“, wenn er über die Gestaltung des zukünftigen türkischen Volkes spricht. In seinem Gedicht „Turan“ lässt er die weibliche Hauptfigur Ay Hanım folgendes sagen:

„… Das Volk ist wie ein Garten.
wir sollen seine Gärtner sein!
man schneide erst die schlechten Triebe
und pflanze dann das Edelreis!“…

 
 

Prof. Dr. Mihran Dabag: „Was aus dem Erzählen der Genozid-Überlebenden deutlich hervorgeht, ist eines: Armenier zu sein heißt Überlebender zu sein.“

 
 

Çiğdem Gül: Herr Dabag, habe ich Sie richtig verstanden? – Also, nicht die Angst der Jungtürken, dass eine Gruppe rebellierender Armenier einen eigenen Staat gründen könnten, sondern dieser unlösbarer Widerspruch führte im Osmanischen Reich zum Genozid an den Armeniern?

Prof. Dr. Mihran Dabag: Ja, genau.
Der Nationalstaat ist ein Konstrukt. Es wird etwas konstruiert. Weil er ein Konstrukt ist, birgt er für die Konstrukteure Ängste. Sicherlich gab es bei den Jungtürken auch Befürchtungen, dass die Emanzipationsbestrebungen der Armenier zu Separatsimen führen könnten. Aber die armenischen Parteien, die allesamt sozialistisch orientiert waren, zielten gar nicht so sehr auf Abspaltung sondern auf Rechtssicherheit und politische Gleichberechtigung. Daher forderten sie Reformen – auch 1913 nochmals angesichts der Enttäuschung, dass die Reformversprechen der Jungtürken nicht eingelöst worden waren und stattdessen seit 1913 eine Einparteienherrschaft errichtet hatten.

Aber die eigentliche Ursache des Völkermords, war das Bild einer türkischen Nation, in die die Armenier als nicht integrierbar galten. Mit dem Genozid sollte die neue nationale Ordnung Wirklichkeit werden. Vernichtet wurde dabei mit den Armeniern eine Gemeinschaft, die eine große Bedeutung für die Modernisierung des Osmanischen Reiches im 19. und 20. Jahrhundert gehabt hatte.
Leider wollte sich der Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs, die Republik Türkei, dieser Geschichte nicht stellen. Man wollte die Gründungsgeschichte der Republik nicht mit diesem Verbrechen in Verbindung gebracht sehen, sondern eine heroische Geschichte etablieren. Daher wurde der Genozid zunächst verschwiegen und dann vehement geleugnet. Bis heute gibt es politisches System der Leugnung. Diese Leugnung belastet weiterhin die Beziehungen zwischen der Republik Armenien und der Republik Türkei.
Für die Nachkommen der Überlebenden bedeutet diese Leugnung, dass ihre Geschichte und ihre Erfahrung immer noch nicht erzählt werden können, ohne in das Licht eines politischen Konflikts gerückt werden. Es ist kein unbelastetes Erinnern, kein Gedenken möglich, das nicht unter einem Druck der Rechtfertigung steht.

Çiğdem Gül: Hatte der spätere Begründer der Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, an dem armenischen Völkermord mitgewirkt?

Prof. Dr. Mihran Dabag: Mustafa Kemal Atatürk, der spätere Begründer der Türkei, gehörte vor dem Ersten Weltkrieg selbst zur Jungtürkenbewegung. Mit dem Völkermord und seiner Durchführung hat er aber nicht unmittelbar zu tun gehabt. Aber im sogenannten „Befreiungskampf“ nach dem Ersten Weltkrieg hat er dem armenischen Präsens in Ostanatolien ein endgültiges Ende bereitet.

 
 
 
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Bildquelle: © 2020 Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Mihran Dabag (Bochum/Deutschland)

 
 

Çiğdem Gül: Das Buch „Verlust und Vermächtnis“ – Überlebende des Genozids an den Armeniern erinnern sich“, das Frau Dr. Kristin Platt und Sie gemeinsam verfasst haben, gehört für mich zu den wichtigsten und wertvollsten Büchern, die ich bisher gelesen habe.

Was hat Sie bei den Gesprächen mit den armenischen Genozid-Überlebenden besonders bewegt und beeindruckt?

Prof. Dr. Mihran Dabag: Bei den Gesprächen hat mich vor allem bewegt und zugleich beeindruckt, dass armenische Genozid-Überlebende nicht von Hass oder Rache geredet haben, sondern von ihrer Enttäuschung, dass ihre Geschichte keine Akzeptanz, keine Anerkennung findet. Sie erzählten vor allem von dem, was sie verloren hatten, von ihrer verlorenen Kindheit, vom ihren abgehärmten Eltern, vom Verlust der eigenen Eltern, vom starken Onkel, von den Kirschbäumen und Feigen… Wir haben diese Gespräche geführt, um diese Erfahrungen und Erzählungen zu retten – und ihnen außerhalb stark politisierter Diskurse um den Völkermord einen Ort zu geben und ihnen Gehör zu verschaffen. Was aus diesen Erzählen deutlich hervorgeht, ist eines: Armenier zu sein, heißt Überlebender zu sein. Nicht Hass bestimmt diese Erzählungen, sondern Trauer, die Erfahrung uneinholbarer Verluste, die Enttäuschung ein Leben verloren zu haben und die Enttäuschung, dass die Erfahrung dieser Verluste zudem noch geleugnet wird.

 
 

Çiğdem Gül: „Hatte der spätere Begründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, an dem armenischen Völkermord mitgewirkt?“

 
 

Çiğdem Gül: Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund die Möglichkeiten für eine Versöhnung?

Prof. Dr. Mihran Dabag: Versöhnung oder Aussöhnung halte ich durchaus für möglich. Aber es gibt, so meine ich eine unabdingbare Voraussetzung für seinen Prozess der zu Aussöhnung, zu Versöhnung führen kann: Anerkennung und Reue. Die Türkei, die türkische Gesellschaft muss sich dieser Geschichte stellen, sie muss den Völkermord an den Armeniern und das Leid der Opfer aufrichtig anerkennen und bereuen. Und sie muss entsprechend handeln. Erst dann kann Versöhnung möglich werden. Das ist bis heute in der Türkei leider immer noch ein sehr schwieriger Bereich und kaum in Sicht.
Allerdings zeigen sich in jüngerer Zeit gibt es unter Wissenschaftlern und in der Zivilgesellschaft der Türkei Entwicklungen, die uns einen Schimmer von Hoffnung schöpfen lassen könnten.

Çiğdem Gül: Herr Dabag, ich danke Ihnen für das Gespräch.

 
 
 
 
 

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