Hochsensibel
in zwei konträren Kulturen
Hochsensible Persönlichkeiten, sogenannte HSP´s (= Highly Sensitive Persons) unterscheiden sich vom Großteil der Bevölkerung darin, dass sie sich durch eine erhöhte Empfänglichkeit für Reize auszeichnen. HSP´s “nehmen Geräusche, Gerüche, Stimmungen oder subtile Veränderungen in ihrer Umwelt sehr viel intensiver auf, als die meisten ihrer Mitmenschen. Auf der einen Seite erleben Hochsensible die Welt differenzierter und intensiver, weil ihnen im Gehirn (= ausgestattet mit geringer Filterfunktion) mehr Informationen zur Verfügung stehen. Auf der anderen Seite führt die Überfülle an bewusst wahrgenommenen Sinnesreizen schnell zur Überlastung von Körper und Seele.
Eigenschaften und Potenziale einer hochsensiblen Person:
# das Gefühl, anders und fremd zu sein
# reicher, wacher, lebendiger Geist
# ganzheitliches und vernetztes Denken
# breitgefächertes Neugier und Interessengebiete
# Wissensdurst
# tiefe und intensive Gefühle, Reaktionen, Reflexion, Nachdenken und Nachempfinden
# sehr hohes Einfühlungsvermögen und Mitgefühl
# feinsinniges Gespür für die subtilsten Spannungen und Schwierigkeiten in der Entstehungsphase
# hohe Qualitäten im Umgang mit Extremsituationen
# die Leidenschaft zu Worten, Texten, Bildern, Musik und Stimmungen
# Fähigkeit, mitzureißen, zu überwältigen, zu interessieren
# Vorliebe für detailgenaues und perfektionistisches Arbeiten
# sehr gewissenhaftes und verantwortungsvolles Handeln und Arbeiten
# stets Suche nach dem Sinn im Leben und im Handeln
# bildhafte Sprachgewohnheiten
# Sinn für “Schönheit” und Ästhetik
# vielfältige Talente
# sehr hohe Kreativität, künstlerische Begabung, Ideenreichtum
# einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn
# hohe Fähigkeit Mitmenschen zu motivieren
# Vertrauen schenken können, Vertrauen geschenkt bekommen
# häufiges Bedürfnis nach Rückzug
Die Hochsensibilität ist keine Krankheit, sondern eine geerbte Begabung.
Laut des, meines Erachtens serösen, Online-Tests „Zart besaitet“ beginnt die Hochsensibilität bei mind. 163 Punkten von 300 Punkten. Ich habe knapp die volle Punktzahl erreicht. Seitdem gehe ich vor Freude stolz wie Napoléon durch die Gegend, als hätte ich die Wuppertaler „Berge“ erschaffen!“…;-)
Als Hochsensible bin ich durch meine Erlebenstiefe sehr begeisterungsfähig. Ich kann andere durch meine Wahrnehmungen überraschen und mitreißen. Ich lasse in mir Erlebtes intensiver “nachklingen”, so dass alles, was ich höre, sehe und erlebe “in mir bewegt” und ich alles genau einpräge. Das wirkt sich auf das Langzeitgedächtnis aus, was bei uns HSP´s sehr ausgeprägt ist. Auch ist die Fantasie zumeist vielschichtiger und die Gedankengänge sind viel tiefer als bei Nicht-HSP´s.
Ich empfehle die folgende Leseprobe aus dem Buch “Zart besaitet – Selbstverständnis, Selbstachtung und Selbsthilfe für hochsensible Menschen” von Georg Parlow:
http://festland-verlag.com/zb/inhallt.php
Nun stellt sich die Frage, wie ich als Hochsensible, die in Deutschland in zwei völlig unterschiedlichen Kulturen aufgewachsen ist und einen langen Migrationsprozess mitbringt, die Welt erlebt.
Ich beobachte und erlebe mit viel Spannung, Freude und Traurigkeit, wie in konträren kulturellen Kontexten die Hochsensibilität unterschiedlich ausgelebt werden kann und welche Wechselwirkungen es gibt. Ich musste vor drei Jahren das Drehbuch meiner Biografie um meine Hochsensibilität korrigieren. Zu dem Zeitpunkt erkannte ich erstmals meine Hochsensibilität. Danach verstand ich in meiner Biografie viele Zusammenhänge und Verhaltensweisen von mir überhaupt und auch besser. Zuvor hatte ich mein Anderssein auf meine, damals als Einzige in der Familie, westliche Einstellung bereits im zarten Alter von fünf Jahren zurückgeführt. Meine ersten Lebensjahre verbrachte ich glücklich in einem anatolischen Dorf.
Viele Jahre später wurde mir in Deutschland bewusst, dass ich mich auch in der westlichen Welt – unabhängig von Ausländer- und Migrationsthemen- anders und unverstanden fühlte. Es waren viele Fragezeichen in meinem Kopf entstanden, die mir keiner beantworten konnte.
In der türkischen Welt lösen seit meiner Kindheit Feste und Hochzeitsfeier mit 500- 1000 Gästen und Massenveranstaltungen bei mir Unbehagen aus… mit starkem Bedürfnis, aus dem Saal und aus der Masse hinauszulaufen. In der deutschen Welt lief ich bereits mehrfach als junge Frau nach Eintritt in Diskotheken und großen Party-Veranstaltungen instinktiv sofort wieder heraus. “Was ist bloß los mit mir? Liegt es daran, dass ich nicht rauche und keine alkoholische Getränke zu mir nehme? Warum ist es für mich so schlimm, in solchen Locations einfach zu bleiben oder länger zu bleiben? Schließlich habe ich auch meine sehr gesellige Seite… Außerdem habe keine Probleme vor einem großen Publikum eine Rede oder Vortrag zu halten.”… diese Gedanken gingen mir jedes Mal durch den Kopf. Dabei hatte rückblickend betrachtet mein Verhalten mit meiner Hochsensibilität zu tun.
Meine glücklichsten Momente erlebe und spüre ich als Hochsensible, wenn ich im Einklang mit der Natur bin, besondere Momente mit besonderen Menschen und Tieren erlebe, sehr berührt bin vom Hören insbesondere kurdischer, anatolischer, orientalischer und klassischer Musik, beim Betrachten eines Kunstwerkes oder Beobachten eines spielenden Kindes, beim Schweigen, oder wenn ich mindestens zwischen zwei Sprachen jongliere. Die Sprache faszinierte mich bereits als Kind… damit meine ich nicht die türkische und die deutsche Sprache oder andere Sprachen an sich, sondern die Linguistik. Für mich war es auch immer spannend, an meiner Ausdrucksweise zu feilen.
Ich bin als Hochsensible selbst sehr überrascht, wie vielfältig meine Interessen sind. Daher habe ich einen farbenfrohen und interessanten beruflichen Werdegang und Hobbies. Hier einige Berufsstationen: Ich bin Diplom-Ökonomin, Online Marketing Managerin. Des Weiteren habe Berufserfahrung als Dozentin, 16 Jahre freie Journalistin bei Print- und Internetmedien in deutscher und türkischer Sprache, fünf Jahre selbstständig als richterlich bestellte Rechtliche Berufsbetreuerin bei drei Amtsgerichten, zwei Jahre Verfahrenspflegerin, zwei Jahre Personal- und Organisationsleiterin, Gerichtsdolmetscherin für die türkische Sprache, Hospitantin in der geschützten Station einer Psychiatrischen Klinik, eigene empirische Erhebung über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Mittelstandsunternehmen deutscher & türkischer Herkunft beim Institut für Angewandte Handelsforschung, Bankangestellte, Trainee im Bereich Personalentwicklung, Förderlehrerin für italienische Schüler, zwei Jahre Schauspielunterricht und zwei Jahre Darstellerin am Laien-Tanztheater, Dichterin. Malen, Portrait zeichnen, fotografieren… Diese waren nur einige von meinen vielen Berufs- und Hobby-Stationen.
Meine Kindheit und Jugend verbrachte ich in der türkischen und deutschen Welt in Deutschland sehr rebellisch, gradlinig und konfliktoffen. Mein Anderssein fiel sowohl in der türkischen Welt als auch in der deutschen Welt sehr auf. Diese waren für beide Welten kaum tragbar. In der türkischen Welt wurde jedoch eher der Versuch unternommen, mich zu sanktionieren.
Nachdem ich bis heute viele äußere und innere Hausaufgaben erledigt und an vielen Themen gearbeitet habe, bin nun in der Lage, am Himmel unzähliger positiven und negativen Erfahrungen den Kurs meines Lebensflugzeuges zu mir selbst zu führen. Ich fliege also geradeaus in Richtung meines inneren Kindes. Je mehr die Anzahl an Deckmäntel auf meiner Seele abgenommen wurde, umso mehr trat meine Hochsensibilität in Augenschein. Ich lerne zunehmend meine Hochsensibilität als eine große Begabung und Bereicherung zu begreifen. Das gelingt mir leider nicht immer. Es ist aber nicht immer eine Frage der positiven Einstellung, sondern auch eine Frage des Sich-Schützen-Könnens. Wir, Hochsensible, haben von Natur aus kein „dickes Fell“. Aber wir können Techniken erlernen, um uns besser vor äußerer Reizüberflutung zu schützen. Und vor allem „uns“ vor Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung schützen, denn für sie sind wir Hochsensible Lebensstoff.
Mit der Hochsensibilität ist mein Gespür für soziale Ungerechtigkeit verbunden, weil ich viel schneller als andere die Last der Welt spüre. Es fällt mir schwer, das Leid in der Welt zu ignorieren. Das erklärt auch meinen hohen Gerechtigkeitssinn. Daher distanziere ich mich zeitweise vom Weltgeschehen und Nachrichten in den Medien.
Die Hochsensitivität kennzeichnet sich auch durch die Komponente, auf der Basis einer stark ausgeprägten Wahrnehmungsebene über die körperlichen Reizwahrnehmungen, den 5 Sinnen hinaus. Sozusagen der 6., der 7. und der 8. Sinn: Hellsichtigkeit, Hellhörigkeit, Hellfühligkeit.
Eine Vielzahl der Hochsensiblen ist zugleich auch hochbegabt.
Eines Tages fiel mir eine hübsche Türkin mit ihrer sinnlichen, warmen und feinfühligen Art sehr auf. Sie hatte Ausstrahlung. Sie hatte zudem etwas, was ich bisher bei keiner der türkischstämmigen Frauen kannte. Heute weiß ich, dass es ihre Hochsensibilität war. Damals wusste ich noch nicht, dass ich HSP bin und ich wusste bis vor einiger Zeit auch nicht, dass sie HSP ist. Als ich sie in einer Gruppe von Menschen zum ersten Mal begegnete, wirkte sie sehr unsicher, ängstlich und ambivalent… Ich spürte, dass sie sich viel Mühe gab, dass man sie nicht “erkennt”, weil die TürkInnen noch weniger mit Hochsensiblen umgehen können, als sicherlich Menschen aus bestimmten anderen Kulturen. Es reicht ja schon, EIN BISSCHEN ANDERS zu sein, und schon wird man in Deutschland in der türkischen Gesellschaft (die in ihrer Entwicklung mindestens 50 Jahre zurückgeblieben ist als die türkische Gesellschaft in den Großstädten der Türkei) als Hure (dabei respektiere ich eher eine gradlinige Prostituierte als eine traditionelle Türkin, die Doppelmoral auslebt), Geisteskranke/r, Gefahr, Bedrohung und Verräter/in abgestempelt.
Ich fühlte mich dieser türkischstämmigen jungen Frau immer innerlich sehr verbunden, ohne lange Zeit zu wissen, warum. Ich spürte ebenso oft auch meine Ambivalenz ihr gegenüber und konnte mir lange Zeit nicht erklären, warum es so war.
In deutschen Kontexten fühle ich mich als HSP schon viel wohler. In den letzten sechs Jahren habe sehr wertvolle hochsensible Persönlichkeiten – darunter auch Experten auf diesem Gebiet – kennengelernt. Einige von ihnen kannte ich schon viel früher und führe mit ihnen tolle Gespräche, erlebe viel gegenseitige innere Resonanz, genieße mit ihnen einzigartige und wunderschöne Momente mit viel Freude und Lachen, dass ich mich auf Wolke Sieben, Acht und Neun gleichzeitig fühle.
Das Leben ist manchmal doch ein Wunschkonzert…;-), wenn man als Hochsesible auf zwei kulturellen Stühlen sitzt und das Orchester doppelt und konträr dirigieren muss. Die Musik, die dabei entsteht, hat eben ein anderes Highlight…;-)
Çiğdem Gül – 24. April 2011
Wuppertal/Deutschland