Çiğdem Gül: Buchrezension
»Extrem begabt – Die Persönlichkeitsstruktur von
Höchstbegabten & Genies«
Von Çiğdem Gül
13. August 2020
Meine Begeisterung über die Renaissance der Höchstbegabung:
»Extrem begabt – Die Persönlichkeitsstruktur von Höchstbegabten und Genies« – An diesem Buch geht keiner einfach so vorbei, auch wenn es im ersten Moment den Anschein erweckt, dass es nur an eine kleine Zielgruppe gerichtet sein müsste. Das Buch spricht aus meiner Sicht sowohl die Gruppe der Hochbegabten, Höchstbegabten und Genies als auch die Mehrheitsgesellschaft an.
Andrea Brackmann: Allein der Name der Autorin steht als Synonym für höchsten Anspruchsniveau und Qualität.
Diplom-Psychologin, bisherige Psychotherapeutin und Bestseller-Autorin Andrea Brackmann zählt im deutschsprachigen Raum zu einer der führenden ExpertInnen für Hochbegabung und Höchstbegabung.
Für mich ist Frau Andrea Brackmann in der Hochbegabten- und Höchstbegabtenlandschaft die beste Autorin.
Mein Respekt und meine Hochachtung, dass Frau Andrea Brackmann vor dem Hintergrund ihrer seit vielen Jahren andauernden und mehrfachen schweren Erkrankung, als Folge die weitgehende Einschränkungen im Alltag sowie mitten in der globalen COVID-19- Pandemie – also unter Schwerstbedingungen – ein Buch über die Höchstbegabten und Genies verfasst und veröffentlicht hat.
Ihr Buch ist am 25. April 2020 im Klett-Cotta Verlag erschienen.
Statistisch gesehen gilt nur eine Person von Tausend als höchstbegabt und weist einen IQ jenseits von 145 auf. Was zeichnet extrem begabte Menschen aus? Was unterscheidet sie von »normal« Hochbegabten? Was bedeutet es für den Einzelnen, mit einem »überstimulierten Nervensystem« zu leben? Andrea Brackmann nähert sich dem Thema auf vielfältiger Weise. Die Autorin beschreibt in ihrem Buch zu Beginn sowohl die wissenschaftlich fundierten Begriffsdefinitionen für die einzelnen Stufen und Formen der Hochbegabung als auch das Modell einer genialen Persönlichkeit. Sehr interessant finde ich z. B. auf S. 24 die Information, dass Hochbegabte sich gut Fakten merken können und logisch vorgehen, während Höchstbegabte Lösungen scheinbar eher intuitiv finden. Auf S. 139 schreibt Frau Brackmann: „Genies wirken häufig alterslos, sie erscheinen zuweilen naiv und kindlich, dann wieder weise, klug und deutlich älter, als sie sind.“
Aus dem Heimathafen „Gegenwart“ begibt sich Frau Brackmann in die verschiedenen Zeitepochen und baut für ihre Leser spannende Brücken zwischen gefühlten, gespürten, unterschiedlichsten, spannenden Kurzbiografien von bekannten Höchstbegabten und Genies wie Pablo Picasso, Van Gogh, Galileo Galilei, Albert Einstein, Hannah Arendt, Wolfgang Amadeus Mozart, Frida Kahlo, Mahatma Mohandas Gandhi, Marie Curie, Leo Tolstoi, Stephen Hawking, Steve Jobs, Toni Morisson und viele mehr. Detaillierte und repräsentative Eigenschaften der Höchstbegabten und Genies werden vor allem über ihre Widersprüchlichkeiten beschrieben. Verletzlichkeit und Stärke, Sensibilität und Spitzenleistung, Rebellion und Anpassung, Selbstzweifel und große Visionen – es sind gerade die extrem ausgeprägten ›sowohl – als auch« Eigenschaften in der Persönlichkeitsstruktur, die einen extrem begabten Menschen ausmachen. Das zeigen die im Buch die zahlreichen Genie-Porträts und die internationalen Forschungsergebnisse. Auf S. 140 und 141 schreibt und zitiert Frau Brackmann: „Von Wolfgang Amadeus Mozart heißt es, er sei »über die Pubertät in gewissem Sinne nie hinausgekommen.« (Hildesheimer 1993) Mozart scheint ein derart widersprüchlicher Mensch zu sein, dass es fast unmöglich ist, ihn überhaupt irgendeiner Kategorie zuzuordnen. Schilderungen in der Forschungsliteratur fallen von einem Extrem ins andere: Mozart, das Wunderkind, der anmutige Götterliebling, der Komponist von musikalischen Werken jenseitiger Schönheit, das unantastbare Genie, das laut Albert Einstein »nur ein Gast auf dieser Erde« war. Mozart, der übermütige alberne Kindskopf und vulgäre Zotenreißer, dem seine Kompositionen beim Kegeln-, Billard- und Kartenspielen nur so zufliegen, der sich mit Musikerfreunden zu nächtelangen Improvisationen, regelrechten Jam-Sessions mit bizarren Instrumenten trifft.“ Über Frida Kahlo – die bedeutendste Malerin Lateinamerikas und eine der ersten Professorinnen für Kunst in Mexiko -, die nach einem Autounfall Zeit ihres Lebens viele OPs hinter sich bringen musste und fast nur bettlägerig war, zitiert Frau Brackmann auf S. 138 Folgendes: »Sie besaß einen unglaublichen inneren Reichtum, und wenn man sie besuchte, um sie zu trösten, ging man getröstet von ihr weg.«
Auf mich persönlich wirken die Porträts sehr unterhaltsam und befreiend mit vielen Aha-Momenten.
Als Psychologin und bisherige Psychotherapeutin liegt es nahe, dass Frau Andrea Brackmann sich auch den seelischen Störungen der Höchstbegabten und Genies mit einem Kapitel widmet. Auf Autismus, Suchterkrankung, Verrücktheit bzw. Für-Verrückt-Erklärt-Werden und andere seelische Störungen geht sie über die genannten berühmten Persönlichkeiten näher ein.
Bei dem Kapitel „Die existenzielle Depression“ musste ich viel frischen Pfefferminztee trinken, um mich zu beruhigen. Dort schreibt Frau Andrea Brackmann auf S. 190 Folgendes: »Verschiedene Autoren […] weisen in jüngster Zeit darauf hin, dass Hochbegabte den Sinn des Lebens häufiger infrage stellen als andere. „Einen Beruf lernen, eine Familie gründen, arbeiten von neun bis fünf, und dann sterben? Das ist alles?“« Genau diese Frage stellte ich mir als Migrantenkind in Deutschland – in türkischer Version und in türkischer Sprache (weil ich damals noch kein Deutsch konnte) – mit nur 6 (!) Jahren. Während Sterbende angeblich wie ein Filmstreifen vor den Augen ihr gesamtes vergangenes Leben sehen, hatte ich im Alter von 6 Jahren meine enttäuschende Zukunft gesehen: „Erwachsen werden, heiraten, Kinder kriegen, Haus und Auto kaufen, und dann sterben? Das kann doch nicht das ganze Leben gewesen sein?“
Vom Stuhl falle ich, als ich auf derselben Buchseite weiterlese:
»Ist von seelischen Störungen oder „Wahnsinn“ bei Genies die Rede, muss also auch über den Begriff von „Wahnsinn der Normalität“ (Gruen 1987) nachgedacht werden. Es gilt etwa als normal, dass wenige Menschen ungeheuren Reichtum anhäufen und viele andere in Armut leben, dass einige wenige Nationen den Großteil der Ressourcen der Erde verbrauchen, dass Tiere als Fleischlieferanten benutzt werden. Es gilt als normal, in der alltäglichen Interaktion seine wahren Gefühle zu verbergen, zu heucheln und kleine Lügen zu verwenden. Es gilt als normal, in zahllosen Filmen Grausamkeiten zur Schau zu stellen […]. Als unnormal oder gestört gilt es hingegen, diese Dinge wahrzunehmen und darauf sensibel zu reagieren.
Die existentielle Depression ist von anderen Formen der Depression zu unterscheiden. Sie ist weder endogen (durch interne Stoffwechselprozesse bedingt), noch hat sie konkrete externe Auslöser. Die Betreffenden leben vielmehr im vagen Gefühl einer düsteren Stimmung, einem Grundton von Melancholie, […]«
Woooow…!!!
Frau Andrea Brackmann beleuchtet weitere Spezialthemen wie ›Seelische Gesundheit‹, ›Resilienz‹, das ›Zusammenwirken der hohen altersbedingten Begleiterscheinungen von Höchstbegabten und Genies mit der Gesellschaft‹ und ›Produktives Unbehagen‹.
Diese Analysen der Autorin halte ich für sehr wertvoll, viele Analysen sind sogar neu. Möge das Buch veranlassen, dass zum Thema national und international viel mehr Forschung betrieben wird.
Frau Andrea Brackmanns Intention könnte sein, die Gesellschaft und andere Experten über die Höchstbegabten und Genies aufzuklären. Vor meinem bildlichen Auge sehe ich im deutschsprachigen Raum eher die Praxis, dass reihenweise noch nicht erkannte Höchstbegabte und Genies mit Tränen am Auge und Taschentuch in der Hand sich in diesem Buch wiederfinden und als solche erkennen. In meinen unzähligen privaten und beruflichen Gesprächen der letzten ca. 10 Jahren mit Hochsensiblen, Hochbegabten, Vielbegabten und Höchstbegabten habe ich von sehr vielen GesprächspartnerInnen erfahren, dass Frau Brackmann ihr Leben nachhaltig verändert hat.
Frau Andrea Brackmann hat einen sehr lebendigen, zielgenauen und klaren Schreibstil, den jeder verstehen kann.
Ich halte es für sehr wichtig, dass dieses Buch auch in anderen Sprachen übersetzt und veröffentlicht wird.
© Çiğdem Gül