Das Frühlingserwachen in Anatolien
Von Çiğdem Gül
24. März 2010
Liebes Tagebuch,
deine leeren und schneeweißen Seiten eröffnen mir den Zugang zu einer farbigen Welt voller Ereignisse, in der ich meine Gedanken wie eine Melodie tanzend zurücklassen kann.
Nun saß ich seit zehn Stunden mit wenig Unterbrechung vor meinem Notebook und arbeitete… Ich bin derzeit selbstständig als Rechtliche Berufsbetreuerin und hatte mir einen „Bürotag“ angesetzt. Zwischendurch schaute ich aus dem Fenster in Richtung Terrasse… Ich sah die ersten Knospen an den Ästen des einzigen jungen Baumes und freute mich so sehr auf den Frühling!
Meine Fantasiereise wurde unterbrochen, als mich meine jüngere kurdischstämmige Bekannte freudestrahlend und überglücklich anrief. Sie war am Vortag aus ihrer 10-tägigen Anatolienreise zurückgekehrt. Sie wollte einmal live erleben, wie ihre Landsleute das Neujahrsfest „Newroz“, das am 21. März jeden Jahres gefeiert wird, in Anatolien zelebrieren. Nicht nur mit den nachwirkenden Glücksgefühlen einer schönen und bedeutsamen Feier war sie zurückgekehrt, sondern auch mit der Erkenntnis im Gepäck, die ihr die wohlhabende Welt in der Zivilisation verblassen lässt. Sie selbst kommt ja aus einer Kultur, in der die Herzlichkeit großgeschrieben wird. Aber der Ausmaß und die Intensität der puren Natürlichkeit, Zufriedenheit und des Kollektivdenkens der Einheimischen, den von ihr bereisten Regionen Anatoliens, hätten meine Bekannte so sehr fasziniert, dass sie übersah, wie jedoch alles seinen hohen Preis hat.
…denn ich glaube nicht mehr an die heile Welt. Das Kollektiv-Denken ist zwar schön und vertreibt den Kollektiv-Egoismus, aber leider nur an der Oberfläche. Insbesondere in den Dörfern Anatoliens hat man als Außenstehende oftmals keinen Zugang, was hinter den Kulissen passiert, auch wenn man dieselbe Sprache spricht und dieselbe Kultur teilt. Ich wollte meiner Bekannte den Augenblick ihrer Freude nicht vermiesen. So sah sie nun seit elf Tagen die Welt mit anderen Augen, aber irgendwann würde sie diese wiederum mit weiteren „anderen Augen“ sehen… Es ist eben ein Entwicklungsprozess.
Ein Lächeln tanzte über meine Lippen hinweg, doch ich schwieg. Ich war tief versunken in Gedanken, als wollte ich der Gegenwart entfliehen. Meine Gedanken- und Phantasiereise führten mich nach Anatolien. Dort wird der Beginn des Frühjahres als ein Ereignis und als das Erwachen der Natur gefeiert. Die Frühlingsfeste in Asien und Europa sind bei den meisten Völkern und Kulturen reich an Motiven, die aus Erzählungen, Mythologien und Traditionen überliefert sind.
Die Christen in der Türkei bezeichnen dies als „Paskalya“ (= Ostern) und feiern ihn gemäß ihres Glaubens.
In Anatolien wird der Beginn des Frühlings in verschiedenen Regionen zu unterschiedlichen Zeiten gefeiert. Am weitesten verbreitet ist das Datum des 21. März, welches zeitlich mit dem Frühlingsanfang übereinstimmt und nach dem alten Kalender den Anfang eines Jahres signalisiert.
Der Frühlingsanfang steht symbolisch immer für eine innere und äußere Veränderung. Insbesondere in den ländlichen Regionen Anatoliens erlebt man die einheimischen Frauen singend bei ihrem großen Frühjahrsputz. Auf einigen Dörfern werden sogar die Wände der Häuser frisch weiß gestrichen – die Menschen reinigen sich damit symbolisch von der Vergangenheit und bereiten sich auf einen Neuanfang vor. Ich habe mir sagen lassen, dass zum Neujahrsfest in jeder Familie eine Süßspeise mit Rosinen, Feigen, Mandeln, Nüssen, Zimt, und Honig zubereitet wird. Man geht vor die Tür. Man geht mit Schritten und zufriedenen Blicken hinaus ins Freie. Die anatolischen Gedankenträger genießen die Natur und ihre Schönheit. Sie grillen meist Lamm am Spieß und vertreiben sich mit diversen Spielen und Unterhaltungen die Zeit.
Und ich drehte nun vergnügt meinen virtuellen Lammspieß am Bildschirm meines Laptops zwischen meinen Geschäftsbriefen… Jaaa!!!… Der Frühling kann kommen!… und mit ihm die farbenfrohen Schmetterlinge und alle weiteren Glücksgefühle!…;-)
Herzlichst
Çiğdem
Bild / Picture thanks to © Courtesy of Tigran Avetyan (Armenia)