Êzîdîsches Model Zarya Azadi: Zwischen Genozid & Fashion Week


LOS ANGELES, CALIFORNIA - OCTOBER 18: A model walks the runway wearing Dair Design during Los Angeles Fashion Week SS/20 Powered by Art Hearts Fashion on October 18, 2019 in Los Angeles, California. (Photo by Arun Nevader/Getty Images for Art Hearts)

LOS ANGELES, CALIFORNIA – OCTOBER 18, 2019: International Yazidi model Zarya Azadi walks the runway wearing „Dair Design“ by fashion designer Odair Pereira, wearing „Tiger Bite Jewels“ by jewelry designer Mary Katrisiosi Baldwin… during Los Angeles Fashion Week SS/20 Powered by Art Hearts Fashion on October 18, 2019 in Los Angeles, California. (Photo by Arun Nevader / Getty Images for Art Hearts)
© 2019 Courtesy of Fashion Photographer Arun Nevader (Los Angeles/USA)


 
 
 
cigdem gül

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Êzîdîsches Model Zarya Azadi

im Interview:

Zwischen Genozid und Fashion Week

 

Deutschland – 15. Februar 2020

 
 

Zarya Azadi

Geburtsort in der Osttürkei, Êzîdîn, Kriegskind, Migrantin,
Menschenrechtsaktivistin für Frauen,
Studium der BSc Real Estate Management,
(Bachelor in Immobilienwirtschaft) in Oxford/England,
Unternehmerin & internationales Model aus Deutschland

Çiğdem Gül

Geburtsort in der Osttürkei, Alevitin, Migrantin,
Menschenrechtsaktivistin für Frauen,
Wirtschaftswissenschaftlerin, Change Management Consultant,
Gründerin des Intercultural Network For The Highly Gifted,
Business Coach & freie Journalistin in Deutschland

 
 
 

Interview

 

Çiğdem Gül: Liebe Zarya, würdest Du Dich bitte unseren Mitgliedern und Besuchern vorstellen?

Zarya Azadi: Ich bin Unternehmerin, Aktivistin für Frauenrechte und ein internationales êzîdîsch-kurdisches Model. Ich engagiere mich für die Rechte der êzîdîschen Frauen. Hierfür habe ich im Januar 2020 ein spezielles und aufwendiges Fotoprojekt in England realisiert, das auch Frauen in anderen Kulturen weltweit anspricht. Des Weiteren engagiere ich mich bei der in Spanien ansässigen NGO „Mundo Cooperante“ für die Frauen in Kenia und Tansania gegen Frauenbeschneidung (Female Genital Mutilation – FGM). Die hierfür in Afrika handgefertigten und symbolischen Armbänder „Maasai Bracelets“ habe ich gesponsert und lege sie bei der London Fashion Show „House of iKons“ im Februar 2020 in die Geschenktaschen „Goody Bags“ und an meinem Stand im Showroom aus. Während der London Fashion Show, an dem ich auch als Model teilnehme, lasse ich die Armbänder „Maasai Bracelets“ von meinem Team mit den Flyern an die Gäste verteilen. Frauenbeschneidung ist einer der abscheulichsten Gräueltaten, die man einer Frau antun kann. In der êzîdîschen Tradition existiert keine Frauenbeschneidung. Umso schockierender und unverständlicher erreicht uns Êzîdînnen und Êzîden in der Diaspora in Deutschland die Nachricht, das seit 2014 andauernden Genozid an Êzîden im Irak die Mitglieder der Terrororganisation IS die êzîdîschen Frauen beschneiden würden.

Ich habe das Ziel, mit Hilfe meiner künstlerischen Arbeiten Aufmerksamkeit auf die wirklich wichtigen Themen zu lenken und neue soziale Projekte zu gründen, die sich vor allem auf Minderheiten fokussieren. Das Ziel dieser sozialen Projekte ist es, eine Stiftung zu gründen, um genau diesen Minderheiten die Möglichkeit zu geben, gesehen und gehört zu werden, um dadurch ihren Völkern nicht nur zu unterstützen, sondern auch dabei behilflich zu sein, sich weiterzuentwickeln. Mit meinem Slogan „Evolve Your Heritage“ spreche ich genau das an: „Vergesst oder verleugnet eure Herkunft nicht. Zelebriert eure Herkunft. Entwickelt euch dabei persönlich auch weiter.“ Es sind nämlich diese Minderheiten, die wegen Existenzängsten so sehr an alte Traditionen und Bräuchen festhalten, und meist sind es die Mädchen und Frauen, die nicht ausreichend Bildung erfahren und sind somit selbst im 21. Jahrhundert noch finanziell an die Männer gebunden. Auch ich gehöre einer Minderheit an. Ich bin Kurdin und gehöre der êzîdîschen Religionsgemeinschaft an.

Çiğdem Gül: Deine Familie und Du lebt als Migranten nun seit vielen Jahren in Deutschland. Wann seid Ihr aus der Osttürkei nach Deutschland geflüchtet?

Zarya Azadi: Im Jahr 1990 flüchtete meine Familie mit den Kindern und mir als Dreijährigen wegen Bürgerkrieg von Diyarbakır nach Deutschland.

Çiğdem Gül: Was war dort genau passiert?

Zarya Azadi: Es ist der seit 1984 bis heute andauernde politische und militärische Konflikt zwischen der operierenden türkischen Streitkräften und paramilitärischen Einheiten der Türkei und der bewaffneten kurdischen Untergrundorganisation „Partiya Karkerên Kurdistanê“; PKK. Der Konflikt findet in der Türkei, im Nordirak und in Nordsyrien statt. Obwohl in der Osttürkei in Diyarbakır einfache Landwirte wie meine Eltern und unsere êzîdîsche Gemeinde an dem Konflikt unbeteiligt waren, wurden sie auch Zielscheibe dieses Konfliktes und Opfer der brutalen Angriffe. Unser Dorf wurde damals von diesem Konflikt resultierenden Bürgerkrieg komplett zerstört.

Çiğdem Gül: Wie verlief für euch im Jahr 1990 nach Ankunft in Deutschland die erste Zeit in diesem fremden Land?

Zarya Azadi: Ich möchte zunächst erwähnen, dass meine Eltern bereits in den 70er und 80er Jahren mehrfach nach Deutschland geflüchtet waren und Asyl beantragt hatten. Leider wurden sie in der Zeit jedes Mal in die Türkei abgeschoben, sodass einige meiner Geschwister in Deutschland und andere in Diyarbakır geboren wurden. Bevor der Bürgerkrieg in unserer Region ausbrach, befanden sich bereits drei meiner Schwestern bei der Familie einer meiner Onkels väterlicherseits in Deutschland. Im Jahr 1990 konnten meine Eltern dann mit den verbliebenen Kindern nach Deutschland kommen. Leider hatten sie deswegen ihr gesamtes Hab und Gut in der Osttürkei zurücklassen müssen. Ich war erst drei Jahre alt gewesen, meine jüngste Schwester, das jüngste Mitglied der Familie zu dem Zeitpunkt war gerade mal ein Jahr alt gewesen, die auch noch unter einem Herzfehler litt, und folglich medizinische Hilfe benötigte.

Çiğdem Gül: Deine sieben Geschwister und Du hattet eure Schullaufbahn in Deutschland durchlebt. In eurer êzîdîschen Community warst Du das erste und bisher das einzige Mädchen ins weitere Ausland, nach England gegangen, um dort Dein Abitur zu machen und zu studieren.

Zarya Azadi: Die finanzielle Unabhängigkeit war mir schon als junger Mensch sehr wichtig gewesen, genauso wie es aktuell dem Herzog Harry und der Herzogin Meghan von Sussex als Beweggrund sehr wichtig gewesen zu scheint, sich aktuell vom Königshaus zurückzuziehen. Ich kann diese Entscheidung sehr gut nachvollziehen, denn auch ich habe solch´ eine Entscheidung getroffen, als ich im Jahr 2008 mit 20 Jahren allein nach England auswanderte, um mein Studium an der Oxford Brookes University zu beginnen. Was derzeit für Schlagzeilen und harte Kritik um das junge royale Paar sorgt, so war es auch bei mir in meiner Familie und Gemeinde, da es noch nie vorher da gewesen war. Es war in unserer êzîdîschen Community undenkbar gewesen, und ist teilweise heute immer noch so, solche Entscheidungen zu treffen und umzusetzen.

Çiğdem Gül: Angehörige leiderfahrener Minderheiten, die als Flucht- und Arbeitsmigranten in einem Aufnahmeland wie Deutschland ankamen, hatten in der ersten Generation ihres Migrationsprozesses größere Ängste um das Wohl ihrer Familienangehörige und Kinder als Nicht-Minderheiten. Ihre Identität und Kultur zu verlieren und folglich ihr berechtigtes Festhalten an ihnen, kollabierte oft mit den konträren Bedürfnissen und Vorstellungen ihrer Kinder. Bei uns Aleviten war es nicht anders gewesen.

Zarya Azadi: Ja, so ist es. Zu meiner Zeit war es undenkbar gewesen, dass eine junge, unverheiratete Tochter allein ins Ausland umzieht, weil es nicht nur um die Sicherheit der Tochter ging, sondern auch um das Ansehen der Familie. Meine Eloquenz, Überzeugungskraft und Hartnäckigkeit halfen mir, nach vielen stundenlangen Gesprächen meine traditionellen und konservativen Eltern davon zu überzeugen, nach Oxford umzuziehen. Es ist mir bewusst, und darüber freue ich mich besonders, dass ich mit meinem damaligen großen Schritt andere jungen Mädchen und Frauen in unserer êzîdîschen Community in der Diaspora in Deutschland Hoffnung gegeben und Mut gemacht habe, einen solchen Schritt auch selbst zu gehen und zu schaffen. Es ist immer schwierig für diejenigen, die als Erste etwas Neues wagen. Für die Nachzügler ist dann somit der Weg geöffnet und erheblich leichter. Allein schon selbstständige Urlaube als junge êzîdîsche Frau ohne einen männlichen Begleiter sind durch diesen Schritt mittlerweile die Norm geworden.

 
 
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Bild / Picture © 2020 Courtesy of Zarya Azadi (Germany) & RVP (Germany)

 
 

Çiğdem Gül: Welche Herausforderungen musstest Du damals als Studentin in England und in Deiner Familie sowie in eurer êzîdîschen Community in Deutschland bewältigen?

Zarya Azadi: Ich habe während meines Studiums in Oxford den regelmäßigen Kontakt zu meiner Familie und zu meinen Verwandten in Deutschland gepflegt. Wir hatten gemeinsame Urlaube genossen. Sie besuchten mich auch oft in Oxford. Bei jedem ihrer Besuche hatte ich es für wichtig gehalten, auch meine Freunde zu mir einzuladen, sodass meine Familie hautnah mitbekommen konnte, welche Menschen mich in Oxford umgaben und mich in meinem Studium unterstützen. Sehr viele meiner internationalen Freunde aus England stammen aus traditionellen oder sehr strengen Familienverhältnissen. Somit fand nicht nur ich, sondern auch meine Familie mit meinen Freunden einen Vergleich, auch wenn dieser Vergleich nicht in der êzîdîschen Gemeinschaft stammt.

 
 

Zarya Azadi: „Der seit 2014 andauernde Völkermord an uns Êzîden im Irak durch die Terrororganisation IS hat mein Weltbild so sehr erschüttert und verändert, dass ich nach sechs Jahren Aufenthalt in Oxford/England mich dazu entschied, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Dieser Wendepunkt in meinem Leben veranlasste mich, meine Lebensziele neu zu überdenken und mich als Unternehmerin und Model mit gezielten internationalen Menschenrechtsprojekten für uns Êzîden einzusetzen.“

 
 

Çiğdem Gül: Zarya, war es Dir damals bewusst, dass Deine Familie vor dem Hintergrund des 74-maligen an Êzîden ausgeübten Genozide eine höhere Dimension an Angst um Dich und Deinen Geschwistern in sich trugen, als Migranten der ersten Generation, die ohnehin Angst hatten, ihre Kinder in einem für sie fremden Land loszulassen?

Zarya Azadi: Ich hatte bis zum Genozid 2014 an den Êzîden im Irak nicht richtig nachvollziehen können, weshalb die Besorgnis meiner Familie in Deutschland um meine Sicherheit in England so gravierend war, weil ich dachte, dass ich auch in einer Stadt in Deutschland alleine genauso gefährdet sein könnte. Mit Beginn des Genozids 2014 im Irak wurde ich in Europa dann selbst Zeugin von Anfeindungen in Freundeskreisen, und somit fühlte ich mich sehr einsam und sogar als Einzige meiner Art, und dadurch auch auf einer Art und Weise bedroht. Ich war bereits in Oxford als einzige Êzîdîn bekannt gewesen. In den sechs Jahren, die ich dort lebte, und in den drei Jahren, die ich dort an der Oxford Brookes University studierte, traf ich dort und im Umland auf keine einzige Êzîdîn und keinen einzigen Êzîden.

Sowohl in Deutschland als auch in England hatte und habe ich das Gefühl, dass die Mehrheit der Leute mit meiner Herkunftskultur und êzîdîschen Religion nichts anfangen können. Vielen ist auch völlig unbekannt, dass es eine Religion namens Êzîdentum existiert. Es ist die Frage nach der Identität, womit ich mich sehr beschäftige, weil ich weder als Êzîdîn noch als Kurdin sofort wahrgenommen und verstanden werde. Ich habe einen türkischen Namen, daher glauben mir viele Türkischstämmige nicht, dass ich trotzdem kein Türkisch kann. Das alles empfinde ich als sehr mühselig. Ich habe z. B. akzeptiert, dass mich meine englischsprachigen Freunde „Lisa“ nennen.

Ich habe mich anderen Kulturen immer mehr angepasst und meine Kultur nie in den Vordergrund gestellt. Ich habe meine Herkunftskultur und Religion nie verachtet oder versteckt. Wenn sie zum Thema wurden, habe ich selbstverständlich darüber geredet. Das Verständnis der meisten war nicht immer sofort da, und das ist etwas, was mich über die vielen Jahre etwas verletzt hat. Nach dem Genozids im Jahr 2014 im Irak ist es noch mal etwas anderes, wo die Medien über uns Êzîden mehr berichtet haben. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass die Welt es für wichtig hält, über uns zu berichten.

 
 
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Bild / Picture © 2020 Courtesy of Zarya Azadi (Germany)

 
 
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Berlin Fashion Week © 2020 Courtesy of Fashion Photographer Rafael Poschmann (Poland)

 
 

Çiğdem Gül: Zarya, wie bist Du auf das Modeln gekommen?

Zarya Azadi: Mit 16 Jahren hatte ich zum ersten Mal an einem Wettbewerb für die Miss Deutschland Vorrunden teilgenommen, an dem mich meine Mutter, meine zweitälteste Schwester und mein älterer Bruder begleiteten. Da ich noch minderjährig war, begleitete mich meine ältere Schwester in fast allen Räumlichkeiten der Veranstaltung. Sie erhielt somit einen ersten Einblick hinter den Kulissen. Den Wettbewerb hatte ich in der Vorrunde leider nicht weiter geschafft… Bevor die Gewinnerin offiziell verkündet wurde, teilte mir bereits im Hintergrund meine Schwester mit, wer die Gewinnerin sein würde, weil sie hinter den Kulissen einige private Unterhaltungen der Dritten mitbekam. Meine Schwester riet mir dann, es nicht zu persönlich zu nehmen und klärte mich ein wenig über das Geschäft solcher Wettbewerbe und Modeindustrie auf. Sie riet mir auch, mich auf meine Bildung zu konzentrieren, weil diese oberflächliche Wettbewerbswelt und Modebranche junge Menschen täuschen kann. Also habe ich es nicht weiter verfolgt und meine Ausbildung als Einzelhandelskauffrau begonnen, die ich mit Bestnote absolvierte.

Çiğdem Gül: Welche Umwege brachten Dich wieder zum Modeln?

Zarya Azadi: Im Jahr 2009 ging ich mit 21 Jahren nach Oxford/England, um dort eine Sprachschule zu besuchen und meine Englischkenntnisse zu erweitern. Ich hielt mich finanziell übers Wasser mit unregelmäßigen Catering-Jobs, als Barkeeperin, als Reinigungskraft bei Villen, als Kellnerin, als Küchenhilfe und als Kindermädchen, bis ich dann im September 2009 mit meinem Abitur an der Oxford Cherwell Valley College beginnen konnte. Immerhin musste ich bis dahin Geld ansparen, um mich in der Folgezeit in Ruhe auf meinen Unterricht konzentrieren zu können, weil mich meine Familie finanziell nicht unterstützen konnte. Es war mir aber auch sehr wichtig, dass ich alles selbst finanzierte und meine finanzielle Unabhängigkeit erlange.

Eines Tages wurde ich von einer flüchtigen Bekannten auf der Cornmarket Street in Oxford zufällig angesprochen, ob ich an der „Oxford Brookes Student Union Fashion Show“ teilnehmen möchte. Es war ein unbezahlter Job als Laien-Model, und als Gegenleistung wurden den Models die Nutzungsrechte den von ihnen gemachten Fotos versprochen. Mir schien eine angehende Karriere als Model sehr verlockend, weil ich dachte, dass ich dadurch mein Studium an der renommierten Oxford Brookes Universität besser finanzieren könnte. Immerhin war London nicht weit von Oxford, und mit meinem multikulturellen Hintergrund könnte es wirklich eine Chance für jemanden wie mich sein. Die „Oxford Brookes Student Union Fashion Show“ war jedoch meine erste große Lektion, die ich erhielt, um nicht all´ zu viele Erwartungen an die Modeindustrie zu haben, denn die Show war ein totaler Reinfall… (lacht). Bei der Show war kein einziger Gast erschienen. Anscheinend hatten die Veranstalter bei der Planung die Wichtigkeit des gezielten Marketings sehr unterschätzt oder vernachlässigt. Wir, die Laien-Models hatten dennoch einige Aufnahmen gehabt und Kontakte mit den Fotografen austauschen können. Das Beste an der Teilnahme dieser Show war es, dass ich die nigerianische Modedesignerin Angel Sadel kennenlernte, für die ich in der Folgezeit bei ihrer Modekollektion einige Jahre als Model gearbeitet hatte. Mit Angel entwickelte sich eine meiner tiefsten Freundschaften während meiner Zeit in England, die bis heute besteht.

Çiğdem Gül: Wie ging es dann für Dich weiter?

Zarya Azadi: Ich erhielt nach der genannten „Oxford Brookes Student Union Fashion Show“ somit mein erstes Angebot mit einer Fotografin für ein Indoor und Outdoor TFP Shooting in Abingdon, ebenfalls in Oxfordshire. TFP ist die Abkürzung von „Time for Print“. TFP’ s sind unbezahlte Aufträge, indem die Models die Bilder kostenlos erhalten. Angel Sadel war diejenige, die mich zum Modeln motivierte und für mich zu einer Art Personal Stylist wurde. Sie beriet mich nicht nur, wie ich als Model vor der Kamera posieren sollte, sondern auch, welche Kleidungsstücke ich in meinem Privatleben tragen sollte, um meinem Typ gerecht zu werden. Wir waren beide Studentinnen und im selben Alter. Wir unterstützten und bereicherten uns gegenseitig in unserer Zusammenarbeit. So, wie es für viele Newcomer-Models und -Designer schwierig ist, so war es auch für uns schwierig, uns in der Modeindustrie einen Namen zu machen.

denn auch für sie war es nicht einfach, als Fashion Designerin in der Industrie sich einen Namen zu machen. Ich unterstützte sie nicht nur als Model, sondern assistierte ihr auch bei ihrer Planung mit ihrer ersten eigenen Show im September 2009 in London. Uns gegenseitig weiter unterstützend, nahmen wir gemeinsam an einer Fashion Show in der Nähe vom Liverpool Street Station in London teil. Dort lernte ich die kongolesische Fashion Designerin Tina Lobondi kennen, mit der ich weitere Projekte realisierte und durch sie im Jahr 2014 auf der ersten World Fashion Week in Paris von Jimmy Choo eingeladen wurde, was für mich zu einem beruflichen Wendepunkt wurde.

 
 

Çiğdem Gül: „Das Gesicht muss etwas erzählen.“

 
 

Çiğdem Gül: Zarya, Du bist als internationales Model unter anderem auf den Laufstegen der Fashion Weeks in Paris, Mailand, Los Angeles, London, Berlin sowie auf vielen multikulturellen Modeschauen gelaufen, z.B. für die französische und preisgekrönte Friseurin Anne Veck auf der Alternative Hair Show in der Royal Albert Hall in London, auf der Ethopian Fashion Show „Habesha“ in London, der Pakistan Fashion Week in London, der UNICEF-Fashion Show for Haiti in Oxford, der Oxford Fashion Campus, der Oxford Fashion Week und der South African Fashion Show in London.

Zarya Azadi: Ja. Und durch diese Shows gelang es mir, mein Netzwerk zu erweitern und somit auch auf den Laufstegen der weiteren internationalen Fashion Weeks als Model teilzunehmen. Ich wurde jedoch von keiner Agentur unter Vertrag genommen mit der Begründung „You’re not the look“, obwohl ich mit meinem Portfolio die verschiedensten Rassen und Typ-Frauen darstellen konnte. Von der hellhäutigen sogenannten „Caucasin“ Frau, der orientalisch aussehenden Frau und bis zur afrikanisch aussehenden Frau, verkörperte ich fast jeden Typ. Wie konnte ich da „Not the look“ gewesen sein? Ansprechpartner solcher Agenturen antworteten mir mit dem Vorwand, dass mein Typ für die Diversität angeblich in vielen Agenturen mit mindestens 1-2 Models vergeben sei.

Meine jahrelange harte Arbeit und Bemühungen, die ich neben meinem Studium ins Modeln investiert hatte, schienen zunächst nicht erfolgsversprechend zu sein.

 
 
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Bild / Picture © 2020 Courtesy of Fashion Photographer Jeff Linett (Los Angeles / USA)

Model: Zarya Azadi / Dress: DAIR Design from Odair Pereira / Handbag: Carat 23 designed by Carolina Riffi Ollite / Jewellery Designer: OTAZU by Rodrigo Otazu

 
 
 

Zarya Azadi: „Auf dem Seminar des malaysischen Marktführers für Schuhdesign Herrn Jimmy Choo in Paris erfuhr ich zum ersten Mal, dass die Kriterien für die Auswahl der Models nicht ihre Schönheit und Einzigartigkeit sind, sondern die Höhe der wirtschaftlichen Kaufkraft der Zielgruppen in ihrem Herkunftsland. Mit dem Feedback an mich „You’re not the look“, das ich als Model von potentiellen Auftraggebern oft zu hören bekam, war vielmehr gemeint als, dass sich kein wirtschaftlich starkes Land mit meinen „Look“ repräsentiert fühlt. Damit wurde ich wieder mit meiner Heimatlosigkeit der Kurden und der Verfolgung der Êzîden konfrontiert und erinnert worden.“

 
 

Çiğdem Gül: Welche Erkenntnisse haben Dich in der internationalen Modewelt am meisten beschäftigt?

Zarya Azadi: Im Jahr 2014 lernte ich während der ersten World Fashion Week in Paris Herrn Jimmy Choo kennen, weil ich einen Seminar von ihm besuchte. Jimmy Choo ist ein sehr bekannter malaysischer Schuhdesigner in London, der 1996 mit Partnern die international bekannte Designer-Schuhmarke „Jimmy Choo Ltd.“ einführte und verkaufte, und sich seit 2001 auf das Design von Couture-Damenschuhen konzentriert. Auf Jimmy Choos Seminar erfuhr ich erstmals, welche Kriterien für die Auswahl der Models entscheidend waren und sind. Und das ist nicht etwa die Schönheit und Einzigartigkeit eines Models – das war mal in den 80er- 90er Jahren so gewesen -, nun entscheidet der wirtschaftliche Hintergrund, welches Model ausgewählt wird. In Ländern, wo geographisch die Kaufkraft am höchsten ist, werden dementsprechend auch ihre jungen Mädchen und Frauen mit ihrem Aussehen als Identifikationsfigur dieser Länder als Model genutzt, um die Zielgruppe zum Kauf der Kleidungsstücke zu verleiten. Mit dem Feedback an mich „You’re Not the Look“, das ich als Model von potentiellen Auftraggebern oft zu hören bekam, war vielmehr gemeint als, dass sich kein wirtschaftlich starkes Land mit meinen „Look“ repräsentiert fühlt. Damit wurde ich wieder mit meiner Heimatlosigkeit der Kurden und der Verfolgung der Êzîden konfrontiert und erinnert worden. Umso mehr wollte ich in den vergangenen Jahren genau das repräsentieren; denn wir Kurden sind nun mal die größte Nation auf der Welt ohne einen unabhängigen Staat, und das mit fast 80 Mio. Landsleuten weltweit. Wir Kurden sind weltweit wirtschaftlich gut aufgestellt und haben insbesondere, was unsere Damenbekleidung und speziell unsere Abendgarderobe für Hochzeiten anbetrifft, eine sehr hohe Kaufkraft. Kurdische, und speziell êzîdîsche Hochzeiten sind mit Abstand die größten Veranstaltungen in unserer Kultur, die wir zelebrieren. Eheschließung und Familie haben in unserer Kultur einen sehr hohen Stellenwert. Die Hochzeiten werden daher im großen Stil mit 500 – 1.200 Gästen gefeiert.

Ich finde, dass in der Modewelt für die Models die Repräsentation einer Kultur oder eines Landes mit potentieller großer Kaufkraft eine Ansichtssache ist. Gerne darf die Modewelt auch von uns êzîdîschen Unternehmerinnen und Models etwas dazulernen.

Die Modeindustrie kann für uns Models sehr irreführend sein. Umso wichtiger ist es für uns zu lernen, uns zu beschützen und vor allem zu lernen, nein zu sagen. Ich habe über die Jahre sehr viele Niederlagen einstecken müssen. Diese haben mich jedoch in meiner Arbeit weiterentwickelt. Ich werde nicht nur beim Modeln bleiben, dass sollte nur ein Schritt für Veränderung in dieser Industrie sein.

Der Vorteil einer Modelagentur ist es, dass du leichter für bezahlte Aufträge vermittelt wirst, jedoch wissen die meisten nicht, dass mit jeder Bezahlung auch die Agentur bezahlt wird, und alles was vorgestreckt wird, wird am Ende von deinen Gagen abgerechnet. Als ich während meines Studiums nebenbei als Model arbeitete, las ich sehr oft in den Medien Schlagzeilen über Fotografen und andere Männer aus der Modeindustrie und über Missbrauch von Models. In der Fashion-Welt ist nicht alles Gold, was glänzt, und es ist sehr wichtig auch über diese Themen offen zu sprechen.

 
 
 
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Çiğdem Gül: Die êzîdîsche Community in der Diaspora ist intern sehr streng, was junge Mädchen und Frauen anbetrifft. So ist es nicht erlaubt, dass sie ihre Weiblichkeit, Sinnlichkeit und Freiheiten ausleben. Zarya, wie empfindest du als êzîdîsches Model die Momente Deiner Fotoshootings, wenn Du Dich sehr feminin, sexy kleiden und posen musst?

Zarya Azadi: Obwohl ich seit Jahren als internationales Model arbeite, empfinde ich bis heute bei jedem Fotoshooting viel Scham, weil ich mit meiner traditionell êzîdîschen Erziehung während der Fotoshootings eine Seite von mir ausleben muss, die ich als Privatperson in meiner Familie und Community immer verdrängen und verleugnen muss, die feminine, sexy und kokettierende weibliche Seite. Versteh mich bitte nicht falsch, unsere êzîdîsche Gesellschaft ist bereits sehr modern, was die feminine Damenbekleidung anbetrifft. Für sie ist es eher befremdlich und unerwünscht, dass sich ein junges Mädchen oder eine Frau beabsichtigt und gezielt mit sexy Posen in Szene setzt oder kokettiert.
Sobald der Fotograf mit seiner Kamera vor mir steht, und noch bevor er die ersten Fotos macht, fühle ich, wie sich mein Gesicht erstarrt. Sexy-sein vor der Kamera empfinde ich als eine Form meiner unkontrollierten Selbstsabotage. Das kann ich leider nicht ablegen. Ich habe zudem Angst, dass ich bei den Fotos nicht ästhetisch genug wirke. Außerdem habe ich als Model kaum Einfluss und Kontrolle über die Orte der Veröffentlichung meiner Bilder. Das löst ebenfalls in mir Unbehagen aus. Sobald ich jedoch als Privatperson mit meinen Freundinnen unterwegs bin, fühle ich mich als Frau sehr wohl in meiner Haut.

Çiğdem Gül: Gibt es zwischenzeitlich für begabte und hochbegabte Models und Künstler mit kurdischer und êzîdîscher Herkunft eine internationale Plattform zur Präsentation ihrer Mode und Kunst?

Zarya Azadi: Nein, leider gibt es diesbezüglich noch keine internationale Plattform für begabte und hochbegabte Models und Künstler mit kurdischer und êzîdîscher Herkunft. Diesen Mangel nehme ich mir unter anderem zum Anlass, in diesem Jahr eine internationale Plattform für uns mitzugründen.

Çiğdem Gül: Stelle Dir den folgenden Fall vor: Ein Designer nimmt für seine Kollektion als Thema den „Krieg“ und entwirft entsprechend die Modebekleidung, die Du als êzîdîsches Model auf dem Laufsteg präsentieren sollst. Würdest Du so einen Auftrag von vornherein ablehnen – „Ich habe mit dem Thema Krieg schon genug zu tun!“ – oder würdest Du das als Chance begreifen und eurer êzîdîschen Geschichte und dem seit 2014 andauerndem Genozid an Êzîden auf dem Laufsteg ein Gesicht geben?

Zarya Azadi: Ich würde als Model eine Design-Kollektion über den Laufsteg nicht unterstützen, wenn darin das Thema „Krieg“ verherrlicht oder ins Lächerliche gezogen wird. Nur wenn das Thema in seiner Ernsthaftigkeit friedenstiftend definiert wird, und diese im Design und der Art, wie sie auf dem Catwalk präsentiert werden soll, sichtbar ist, wäre ich dabei. Gerade die Mode ist ein großer Message-Überbringer, das hat mir jemand in England gesagt.

 
 
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© 2020 Courtesy of Zarya Azadi (Germany)

 
 
Çiğdem Gül: Welche Gefühle sind Dir als êzîdîsches Kriegskind von den Momenten der Stille umgeben?

Zarya Azadi: Das ist ein sehr intensives Thema. (seufzt) Also, wie ich mich dabei fühle? Hilflos. In Momenten der Stille spüre ich meine Hilfslosigkeit, weil wir Êzîden in unserer eigenen Kultur und Community auch interne Konflikte haben, die wir versuchen, nicht nach außen zu tragen. Es ist schrecklich genug und für mich unbegreiflich, dass im 21. Jahrhundert ein Genozid an uns passiert. Unseren Schwestern und Brüdern in Nigeria ist der Völkermord auch passiert. Es ist schwierig in der modernen Welt, solche schreckliche Taten wie Versklavung, Verschleppung und Hinrichtungen aufzunehmen. Auch wenn wir in Deutschland den Völkermord im Irak und alle anderen schrecklichen Taten in der Historie abschalten würden, spüren wir trotzdem eine große Hilfslosigkeit, weil wir große Angst davor haben, unsere Identität in der Diaspora zu verlieren. Einsamkeit ist vielleicht nicht der ausreichende Ausdruck dafür, aber somit kehren wir mehr in uns selbst… und verlieren manchmal den Bezug zu Außenwelt. Dadurch entstehen ja auch Parallelgesellschaften. Auf der einen Seite sind wir Êzîden modern und westlich eingestellt, auf der anderen Seite möchten wir unsere eigene Identität aufrechtzuerhalten und zu bewahren.

Çiğdem Gül: Ja, das ist eine große Herausforderung im Migrationsprozess.

Zarya Azadi: Ja…

 
 

Zarya Azadi: „Wie es sich anfühlt, als Einzige in der Familie so sehr anders zu sein, ist der unendliche Schmerz, auch in meiner eigenen Familie heimatlos zu sein. Mein Freigeist, Anderssein und Vielbegabung wirken auf einige meiner Familienmitglieder und auf bestimmte Mitglieder unserer êzîdîschen Community nicht einschätzbar, obwohl ich in der êzîdîschen Kultur verankert bin. Das wurde mir sehr oft als Rückmeldung oder Vorwurf mitgeteilt. Ich fühle mich von ihnen und von vielen Menschen im deutschsprachigen Raum nicht verstanden. Während meines sechsjährigen Aufenthaltes in multikulturellen Oxford und London fühlte ich mich eher unter Gleichgesinnten.“

 
 

Çiğdem Gül: Ist das generationsübergreifende Schweigen bei euch Êzîden auch so ein großes Thema, wie bisher bei uns Aleviten oder bei den Armeniern? Es gibt z. B. eine in der Türkei lebende armenische Rechtsanwältin namens Fethiye Çetin, die ein Buch über ihre Großmutter geschrieben hat, die wiederum 60 (!) Jahre lang den Genozid an den Armeniern verschweigen musste. Es bedeutet ein großer Kraftakt, so eine Geschichte ein Leben lang wegzuschweigen. Es bedeutet, dass man übermenschliche Kräfte haben muss, um so einen tiefen Schmerz im Schweigen auszuhalten und zu überleben.

Zarya Azadi: Meine sieben Geschwister und ich haben das Kriegs- und Fluchttrauma unserer Eltern trotz ihres jahrelangen Schweigens mitbekommen und diese sicherlich – sei es auch unbewusst – übernommen. Meinen Eltern fällt es immer noch sehr schwer, über Themen wie unsere Identität, Kultur und Religion zu sprechen. Und wenn sie darüber mal sprechen, dann spüre ich ihren großen Schmerz. Sie haben erst mit dem Beginn des Völkermords 2014 im Irak begonnen, „darüber“ zu sprechen. Vor allem erlebte ich, wie sich mein über 70-jähriger Vater vor uns erwachsenen acht Kindern auf einmal emotional und Erinnerungen geöffnet hatte und erstmals über seine Flucht und Aufenthalt in der Türkei sprach. Er erzählte von seiner Angst in der Türkei, weil er damals seine Ehefrau, seine sieben Kinder und seine Geschwister beschützen musste. Unsere Sicherheit hatte für ihn die höchste Priorität, sodass er nicht einmal für die Ehre kämpfen konnte. Er fühlte sich auch schuldig, weil er das Gefühl hatte seine Landsleute in der Türkei im Stich gelassen zu haben.

In meiner Schulzeit stellten mir Lehrer im Religionsunterricht Fragen zum Thema Êzîdentum, die ich meinen Eltern weiterleitete. Für sie war es aber sehr schwierig darüber zu reden. So hatte ich meinen Eltern viele Jahre zum Vorwurf gemacht, dass sie mich mit ihrem Schweigen im Dunkeln gelassen haben. Aber heute verstehe ich, warum meine Eltern geschwiegen haben.

 
 
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Bild / Picture © 2020 Courtesy of Siyana Kasabova (Russia), Creative Director Deigh Alexander (London)

 
 

Çiğdem Gül: Welche Herausforderungen musstest Du bei dem Spagat zwischen der westlichen Welt und Deiner konträren östlichen Welt als êzîdîsches Kriegskind in der Diaspora bisher bewältigen?

Zarya Azadi: Die erste Herausforderung, die zu bewältigen galt, begann für mich bereits in meiner eigenen Familie. Wie es sich anfühlt, als Einzige in der Familie so sehr anders zu sein, ist der unendliche Schmerz, auch in meiner eigenen Familie heimatlos zu sein. Mein Freigeist, Anderssein und Vielbegabung wirken auf einige meiner Familienmitglieder und auf bestimmte Mitglieder unserer êzîdîschen Community nicht einschätzbar, obwohl ich in der êzîdîschen Kultur verankert bin. Das wurde mir sehr oft als Rückmeldung oder Vorwurf mitgeteilt. Ich fühle mich von ihnen und von vielen Menschen im deutschsprachigen Raum nicht verstanden. Während meines sechsjährigen Aufenthaltes in multikulturellen Oxford und London fühlte ich mich eher unter Gleichgesinnten.
Von acht Kindern war ich das einzige Anders-Kind meiner Eltern, das den sicheren „Garten“ verließ, um die weite große Welt zu entdecken. Ich konnte anschließend meine Themen, mein Studium und meine Modelkarriere nur teilweise mit meiner Familie teilen, weil es für sie Neuland war, und sie meine Welt nicht immer verstehen konnten und können. Hinzu kam, dass ich als junges Mädchen in Oxford meine Unterkunft, Schule und Studium selbst finanzieren musste. Ich hatte keine Vorbilder, die mir zeigten, wie ich meinen Weg gehen konnte. Also lernte ich alles aus eigenen Fehlern und eigener Erfahrung.

Eine weitere Herausforderung besteht für mich als Model in der Modewelt darin, dass die Êzîden als kleine Minderheit von der Modeindustrie nicht als Zielgruppe betrachtet und definiert werden. Die globale Welt wusste vor dem Genozid im Jahr 2014 im Irak durch den IS kaum etwas über die Êzîden.
Als Kriegskind und erste Generation der Familie trage ich innerlich immer eine gewisse Verantwortung in mir, die von Schuldgefühlen geplagt ist. Auf der einen Seite repräsentiere ich als Frau in der westlichen Welt unsere êzîdîsche Gesellschaft und möchte der westlichen Welt nicht den Anschein erwecken, dass ich wegen unseren historisch berechtigten altertümlichen Bräuchen und Traditionen „Opfer“ meiner Gesellschaft bin. Auf der anderen Seite möchte ich die westliche Welt über uns Êzîden mit all‘ seinen historischen und gegenwärtigen Schattierungen informieren. Das könnte für meine Community bedeuten, dass sie sich von mir verraten fühlen könnte, und sie mich als negatives Vorbild sieht.
Es ist für mich als êzîdîsches Model nicht einfach, in der Modebranche die westlichen Standards und Normen mit denen meiner Kultur in Einklang zu bringen. Ich habe vor dem Genozid 2014 immer versucht, als Model nicht zu gewagte Outfits zu tragen. Leider hat man als Model oftmals darüber keine Entscheidungsbefugnis. Man wird als Model engagiert, der Designer wählt von seiner Kollektion das ausgewählte Outfit für das Model aus; unabhängig davon, ob es dem Model und dem Fotografen gefallen würde oder nicht. Nach dem Fotoshooting werden viele Tage später dem Model die bearbeiteten Bilder vorgelegt. Das Model hat in den meisten Fällen auch über die Auswahl, Lizenzrechte und Veröffentlichung ihrer Fotos keinerlei Mitspracherecht, es sei denn, sie hat das Fotoshooting aus eigener Tasche bezahlt.

 
 

Zarya Azadi: „Die größte Herausforderung zwischen dem Spagat der westlichen Welt und meiner konträren östlichen Welt als êzîdîsches Kriegskind in der Diaspora besteht darin, in allen Themen in der Außenwelt meine Familie und mich permanent schützen zu müssen. Auch vor der eigenen êzîdîschen Community. Çiğdem, das ist der Grund dafür, weshalb ich in der Modewelt und in der medialen Öffentlichkeit immer einen Künstlernamen verwende.

Als êzîdîsches Kriegskind aus der Türkei… fühle ich mich nach über 20 Jahren Migration in Europa trotz Frieden immer noch wie ein Flüchtling, der rastlos, heimatlos und die Identität in der Hosentasche schützend gefühlt auf der Flucht ist.“

 
 

Die größte Herausforderung zwischen dem Spagat der westlichen Welt und meiner konträren östlichen Welt als êzîdîsches Kriegskind in der Diaspora besteht darin, ständig mit allen Themen in der Außenwelt meine Familie und mich schützen zu müssen. Auch vor der eigenen êzîdîschen Community. Çiğdem, leider kann ich deshalb in der Modewelt, in der medialen Öffentlichkeit und auch bei unserem Interview nicht meinen echten Namen verwenden. Mit meinem bürgerlichen türkischen Namen wurde ich zu oft fälschlicherweise als muslimische Türkin identifiziert. Somit war es immer eine Herausforderung für mich, mich und meine Herkunft aufs Neue erklären zu müssen.

Ich habe als Model bisher unter den verschiedensten Künstlernamen gearbeitet, um meinen Namen und den meiner Familie nicht zu beflecken und auch zu schützen. Mit jedem Künstlernamen, musste ich mich neu definieren, strategisch nachdenken und dabei meine Identität bewahren, also wofür ich mit meiner Arbeit als Model stehe und was ich damit repräsentieren möchte. Anfangs entschied ich mich für westliche Namen, sodass sie jeder aussprechen konnte und ich Teil der westlichen Welt sein sollte. Dann habe ich meinen westlichen Künstlernamen mit einem orientalischen Namen kombiniert. Jahre später entschied ich mich für einen kurdischen Namen, der mich mit all´ dem beschreibt, wofür ich stehe. Mein Künstlername „Zarya Azadi“ steht für Freiheit und Unabhängigkeit. Sie steht in erster Linie für die Gleichberechtigung der Frauen. Ich habe vor einigen Jahren durch einen Vortrag von der britisch-nigerianischen Schauspielerin Uzoamaka Aduba, die durch die Netflix Serie „Orange is the new black“ erfolgreich wurde, die Einsicht erlangt, die übrigens auch unter ihrem bürgerlichen Namen viele Jahre litt, dass es völlig in Ordnung ist, einen sehr komplizierten und ausländischen Namen im Westen zu tragen, da die Menschheit auch gelernt hat, Namen wie Tchaikovsky, Michelangelo und Dostoevsky auszusprechen. Den Rat erhielt sie von ihrer äußerst starken, unabhängigen und alleinziehenden Mutter von fünf Kindern.

Wir, Kurden leiden sehr unter unserer immer andauernden Identitätskrise wegen der weltweiten Zerstreutheit und der Aufteilung des eigenen Landes durch die Türkei, Irak, Iran und Syrien. Wir, Kurden, besitzen alle Pässe von unterschiedlichsten Ländern. Viele von uns besitzen auch die doppelte Staatsangehörigkeit, aber keines davon ist ein Kurdisches. Somit war auch meine Identitätskrise in jungen Jahren begründet, die jedoch für Außenstehende nicht immer nachvollziehbar war.

Im Jahr 2014 war mit dem Genozid an den Êzîden im Irak nicht nur eine schockierende Nachricht für mich, sondern für alle Êzîden weltweit, denn auch zum ersten Mal in unsere Geschichte wurde durch die Digitalisierung hautnah vom Genozid berichtet. Viele von uns kannten diese Geschichten nur aus Erzählungen und hatten, so wie auch ich Eltern und Großeltern, die von den Kriegen als Zeitzeugen berichteten. 2014 war definitiv ein Wendepunkt in meinem Leben, da auch ich wie so viele ein ganz neues Weltbild entwickelte und nach sechs Jahren Aufenthalt in England für mich entschied wieder zurück zu meiner Familie zu ziehen und meine Lebensziele neu zu überdenken.

Çiğdem Gül: Liebe Zarya, ich danke dir von Herzen für das Gespräch und für unsere tolle Zusammenarbeit bei unserem gemeinsamen Projekt.

Ich bin sehr beeindruckt von Deiner Gutmütigkeit, Visionen, Verantwortungsbewusstsein als Vielbegabte und großem Engagement für Menschenrechte.

 
 
 

Siehe zu unserem Projekt die folgenden Seiten:

Seite 1: Das Êzîdentum – Êzîdîn Zarya Azadi & Alevitin Çiğdem Gül

Seite 2: Êzîdîsches Model Zarya Azadi: „Zwischen Genozid & Fashion Week“

Seite 3: Das Alevitentum – Alevitin Çiğdem Gül & Êzîdîn Zarya Azadi

Seite 4: Çiğdem Gül: „Aleviten zwischen Universum, Semah & Verfolgung“

 
 
zarya azadi & cigdem guel_project_12

Bild / Picture: © 2020 Courtesy of Fashion Photographer Biagio Duca (Italy)

 
 

Zarya Azadi (Deutschland)

Webseite: Zarya Azadi

Instagram: @zarya_azadi

Twitter: Zarya Azadi

E-Mail: contact@zaryaazadi.com

 

Çiğdem Gül (Wuppertal / Deutschland)

LinkedIn: Çiğdem Gül

Xing: Çiğdem Gül

Webseite: Interkulturelles Coaching für Hochbegabte

Instagram: @cigdem.guel

E-Mail: info@interkulturellhochbegabte.de

 
 
 
 
 

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